Eine weitere Werbeeinheit, sich nicht selbst zu bewerten
In den letzten Tagen habe ich mit ein paar Patienten gesprochen, die mir in ähnlicher Weise von Angst berichteten. Dabei ging es nicht um die Furcht vor einer konkreten Situation, sonder um eine diffuse Angst, gelegentlich mit Steigerungen: „Sind das nicht schon Panikattacken? Ich könnte morgens einfach liegen bleiben und mir die Decke über den Kopf ziehen, wenn ich daran denke, dass der Tag vor mir liegt.“ Manche beschreiben Ängste vor den Herausforderungen des Tages und Sorgen vor anstehenden Aufgaben und Gesprächen. Oft erinnern sich die Patienten, dass sie diese Gefühle schon sehr lange, manchmal das ganze Leben lang mit sich schleppen.
(Natürlich könnte man hier als Psychiater rotieren: Soll ich diagnostisch eine generaliserte Angststörung, die sogenannte „Sorgenkrankheit“, daraus machen? Vielleicht lieber eine Agoraphobie, mit oder ohne Panikattacken? Oder doch gleich eine Depression, am besten als sogenannte „doppelte Depression“, eine Kombination aus einer depressiven Episode mit einer Dysthymie?
Und dann gibt’s da eine Menge interessanter Medikamente zu überlegen. Haben die Patienten schon die einschlägigen Antidepressiva, die bei Depression und gleich auch noch bei der generalisierten Angststörung indiziert sind, wirklich schon ausgetestet, und das auch noch bis heran an die Höchstdosis? Und soll ich vorübergehend noch vielleicht Tranquillizer verordnen, damit das mit dem Schlaf endlich wieder klappt, oder einfach, um den Tag zu überstehen? Es handelt sich schließlich nach der einschlägigen Saga um eine Gehirnkrankheit mit einem Missverhältnis von allen möglichen Rezeptoren und Neurotransmittern, das sollte man doch chemisch angehen! Ich ging aber lieber so vor:)
Ich habe angeregt, einmal ganz genau hin zu sehen und zu spüren, was es mit der „Angst“ auf sich hat. In der Gruppe haben wir das auch gemeinsam gemacht. Dazu kann die Frage helfen: „Was wäre denn das Gegenteil zu der erlebten Angst?“ Manchmal kommt dann so etwas wie „Freude“ oder „Mut“. Auch erkläre ich, dass der Begriff der „Angst“ häufig zu unscharf ist, um wirklich eine gute Beschreibung des Zustandes abzugeben, und nur all zu oft sogar regelrecht eine Verdeckung des eigentlichen Zustandes zur Folge hat.
Wenn ich folgende körperliche Wahrnehmungen beschreibe: „weiche Knie, Herzklopfen, Kloß im Bauch, Druck auf der Brust“ und nach dem Gefühl frage, was da herrscht, kommt natürlich rasch die Antwort „Angst“, da wir ja gerade davon sprechen. Aber es könnte auch eine genaue Beschreibung einiger körperlicher Phänomene von Wut oder Verliebtsein oder Traurigkeit oder Ohnmacht sein. Wenn ich dann Angst sage, wird alles unklarer durch die gewählte Sprache. Ich nenne dann Angst ein Deckgefühl, das verhindert oder sogar verhindern soll, dass das eigentliche Gefühl (z.B. Wut) gefühlt wird.
Bei diesen Patienten hat sich nun durch ein längeres Hinsehen und Erforschen herausgestellt, dass sich ein zunächst unbewusster, aber stark wirksamer innerer Dialog findet mit Inhalten wie „Du bist nicht richtig, Du kannst ja nichts, Du bist dumm und blöd“. Diese inneren Abwertungen lassen sich herausschälen und dann besser betrachten, wenn sie explizit ausgesprochen werden.
Die Patienten, die das bei sich entdecken, frage ich nach dem inneren Gefühl, das sie sich selbst gegenüber haben, wenn sie dieses Muster so entdecken. Manchmal stelle ich einen kleinen Kinderstuhl vor die Patienten. „So reden Sie mit ihm/ihr, einem Teil in Ihnen! Hat er/sie das verdient?“ Sie fühlen und benennen dann, dass sie traurig sind, weil sie wahrnehmen: „So gehe ich mit mir um!“ und „Ich will so gar nicht mit mir umgehen“. Diese Traurigkeit nenne ich eine notwendige Traurigkeit, über die ich mich freue, denn sie fühlt sich für die Patienten und mich so stimmig an. Sie entsteht in der Verbindung und dem Kontakt mit sich selbst. Es ist ein Selbstmitgefühl. Wenn man sie bemerkt, ist neben der Traurigkeit ein Gefühl von „es ist in Ordnung so“ zu erkennen. Diese Traurigkeit darf da sein, und das entspricht einer inneren Erlaubnis, selbst einfach so sein zu dürfen, wie man ist. Und gleichzeitig ist sie der innere Impuls, gut mit sich umzugehen. Keiner muss dann noch erklären, dass man sich besser nicht abwerten sollte. Der Impuls entsteht ganz einfach aus sich heraus.
Einfach ist der dann folgende Prozess vielleicht doch nicht, denn womöglich muss man ihn wieder und wieder durchgehen, bis der nicht-abwertende Umgang mit sich selbstverständlich wir. Da entsteht dann das, was man landläufig „Selbstwertgefühl“ nennt (meine kritische Haltung zu dieser Wortgebung habe ich schon hier und hier ausgeführt).