In der Ekstase der Sexualität kann man die Gleich-Gültigkeit der Lebensäußerungen erfahren
Gewalt und Sex
Vor wenigen Tagen erzählte mir jemand die Geschichte eines jungen Soldaten aus dem Kosovo-Krieg. Der Mann musste erleben, wie sein Freund an schweren Verletzungen starb. Er stand unter einem solchen Schock, dass der den Tod gar nicht wahrnahm und den Körper des Freundes über Tage zurück zu ihrem Dorf trug. Nachdem er ihn dort abgelegt hatte, überfiel er eine Frau und missbrauchte sie sexuell und körperlich. Der Mann selbst hatte Jahrzehnte später seine Geschichte berichtet.
Traumatisierung führt zu Gewalt
Ich habe lange darüber nachgedacht. An der Traumatisierung des Mannes kann es wohl keinen Zweifel geben. Der dissoziative Zustand und auch seine späteren Flashbacks sprechen eine deutliche Sprache. Es ist auch weithin geläufig, dass traumatisierte Soldaten nach der Rückkehr aus dem Krieg oft Gewalt im familiären Bereich ausüben.
Sexualität als Heilritual
Es gibt eine ganz alte Tradition, dass die Krieger, bevor sie nach der Schlacht wieder in die friedliche menschliche Gemeinschaft eingegliedert werden konnten, in den Tempel gehen mussten, wo sie mit den Priesterinnen zusammen waren. Durch die Sexualität und den Kontakt mit Liebe und Liebes- und Lebenslust erhielten sie ihre Menschlichkeit zurück. Sie mussten nach der Entmenschlichung durch die Gewalt wieder vermenschlicht werden. Dieser Tradition ist der Soldat gefolgt – ohne zu wissen, was er tut, und dabei hat auch die dafür geltenden Ritualregeln verletzt, denn das funktioniert natürlich mit der Vermenschlichung nicht, wenn man weiter zu Gewalt greift.
Wut auf das Leben
Außerdem hat er noch etwas anderes ausgelebt: Die Wut auf das Leben, die sich in einer Projektion gegen die das Leben hervorbringende Frau richtet. Die Wut richtet sich gegen die Frau schlechthin, das Leben, die Mutter des Lebens. Das ist sehr archaisch. In dieser Projektion kommt die ganze Schlechtigkeit und Bosheit, die er erlebt hat, und auch an sich selbst feststellt, aus der Frau. Sie ist die Pandora („die-alles-Schenkende“) mit der Büchse randvoll mit den Schrecklichkeiten. Der Mann könnte – ganz ohne Projektion – alles auch an sich selbst erkennen, was aber viel schmerzhafter ist.
Ich konnte einmal in einem ekstatisch-mystischen Erleben in der Sexualität die Wut, das Entsetzen und die Traurigkeit über die Möglichkeit des Lebens, etwas so bösartiges auf die Welt bringen zu können, und die Liebe des Lebens zum Leben gleichzeitig wahrnehmen. Dabei ist die Wut natürlich der individuellen Partnerin nicht anzulasten. Die Folge des Liebesaktes kann durchaus ein Krieg bzw. ein Krieger, der Krieg führt, sein – und beide, Frau und Mann, sind daran beteiligt. Es ist eine Ko-Kreation. Und wenn es gut läuft, ist sogar Liebe beteiligt.
Liebe des Lebens und Liebe zum Leben: Hingabe
Es entspricht meinem (mystischen) Erleben, dass das Leben – die Mutter des Lebens, die Shakti, das Lebendige an sich – dem Leben gleich-gültig, hingegeben und liebevoll gegenüber steht. Das Leben will nichts vom Leben, und in diesem Sinne ist alles in bester Ordnung, was geschieht. Es ist ein bisschen so, wie die Mutter, die alle ihre Kinder liebt, auch wenn sie nicht alle „gut“ sind. Es ist das anerkannte Recht der Mutter (und in dem abgeleiteten Sinne natürlich auch des Vaters), die Kinder zu lieben, selbst wenn sie Mörder werden.
Auf eine tiefe Weise liebt das Leben das Leben. Das ist Hingabe. Mit der eigenen Hingabe an das Leben hat man teil an der Hingabe des Lebens überhaupt.