Eine Selbst-Bewertung führt zu einem ganz anderen Dasein als Mitgefühl mit sich selbst
Selbstwertgefühl ist ein großes Thema in der Psychotherapie. Es taucht in immer neuen Färbungen auf: Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, auch Selbstwirksamkeit, Selbstliebe und Selbstmitgefühl. Und natürlich auch in den Begriffen Minderwertigkeitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex.
Für mich ist dabei wichtig, ob mit den neuen Begriffen, die immer häufiger in den Publikationen auftauchen, einfach alter Wein in neue Schläuche gefüllt wird. Oft sagt jemand: „Wenn ich das und das kann, wenn ich das und das habe (auch Aussehen z.B.), wenn ich so und so bin, dann habe ich endlich ein Selbstwertgefühl oder Selbstvertrauen oder kann ich mich lieben.“ Das ist eine klare Wenn-Dann-Beziehung. Für ein (gutes) Selbstwertgefühl muss ich etwas vorweisen können, vor mir selbst und vor den anderen.
Im Wort „Selbstwertgefühl“ ist die Betonung auf die Wertung bereits enthalten. Bei einem guten Selbstwertgefühl bewerte ich mich selbst gut. Also handelt es sich beim Selbstwertgefühl gar nicht um ein Gefühl, sondern um ein Denken, ein Selbstwertdenken eben. Dieses Selbstwertdenken kann zu Gefühlen führen, z.B. Traurigkeit bei Abwertung oder Glücksgefühlen bei Aufwertung.
Die Tücke liegt dabei im Werten selbst. Jedes Werten beinhaltet das Abwerten. Jede gute Note weist auf die Möglichkeit der schlechten Note hin. Ein Lob ist ohne einen Kontext, in dem auch Kritik stattfindet, nicht denkbar (oder wäre sonst im Wertungsdenken wertlos, da beliebig, und kein Lob). Die Folge sind Leistungsdenken, Wettbewerb mit anderen und Oben-Unten-Denken in Kontakten.
Manchmal schwimme ich in einem Fluss oder See. Ich fühle das Wasser, das mich trägt, spüre die Strömung auf der Haut, nehme den Körper wahr. Ich höre auf die Abendstille und sehe die Himmelsfärbung. Meist bin ich dann einfach ganz bei mir anwesend. Viele kennen dieses Gefühl, das in unterschiedlichen Situationen auftritt.
Wenn mich dann jemand fragen würde: „Und, wie ist Dein Selbstwertgefühl?“ würde ich vermutlich verwundert aus der Wäsche schauen. Oder einfach sagen: „Ich bin.“ Das Selbstwertgefühl und die Selbstbewertung weichen einem Selbstgefühl. Das schlichte Dasein begründet das Selbstgefühl. Es bedarf keiner weiteren Begründung. Es ist einfach Teil der Existenz. Es ist von Lebensfreude und Lebenslust und Friedlichkeit geprägt. Und das sogar, wenn die aktuelle Lebendigkeit mit traurigen Gefühlen gefüllt ist.
Mit den Begriffen von Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und sogar Selbstliebe schwingt häufig der Bewertungsaspekt mit, auch wenn er aus den Vokabeln verschwunden ist: „Ich kann mich selbst lieben, wenn …. “ „Mein Selbstvertrauen wäre größer, wenn ….“ Das ist für mich der gleiche alte Wein, nur in neuen Schläuchen. Vielleicht kannst Du das entdecken, wenn Du genau hin fühlst?
Vielleicht funktioniert Selbstmitgefühl anders? Bewertung ist das schiere Gegenteil von Mitgefühl.
Es könnte ein lohnenswertes Experiment sein, sich zu fühlen, d.h. alle körperlichen und emotionalen Regungen wahr zu nehmen. Fühle ich mich dann lebendig? Und drängt es mich in diesem Zustand immer noch nach einer Selbstbewertung?
Wir versuchen einen Raum zu gestalten, in dem wir diese Fragen erforschen.