Hat Panik – wie jetzt mit der Corona-Epidemie – oder Depression etwas mit dem Widerstand gegen das Leben, so wie es ist, zu tun?
Angst kommt auf
In diesen Corona-Virus-Zeiten taucht jetzt zunehmend Panik auf. Ich bemerke, wie sich seit vorgestern eine Stimmungsänderung bei den Patienten breit macht. Etwas depressives, mutloses kommt dazu. Vielleicht, weil so viele Ressourcen wegfallen, wie Tanzen, Konzertbesuche, Ausgehen mit Familie oder Freunden. Die Bundeskanzlerin rät zur Einschränkung des sozialen Lebens, mit dem Ratschlag, Treffen bis in die Familie hinein zu vermeiden. Menschen spüren aber, dass sie soziales Leben brauchen, und wägen es gegen die bekannten oder vermeintlichen Risiken ab. Und dann kommt Angst auf.
„Was ist schlimm am Sterben?“
In einer Gruppe haben wir uns Gedanken gemacht, was es mit dieser Angst auf sich hat. Angst vor dem vorzeitigen Tod? Ich habe gefragt: „Was ist denn so schlimm am Sterben?“ Es zeigte sich, dass die meisten mit dem Tod ein Alleinsein fantasieren. Wenn jemand stirbt, bleiben wir allein zurück, wenn wir sterben, bleiben andere, z.B. unsere kleinen Kinder allein zurück, und das macht uns traurig. Niemand, das wird klar, mag traurig sein, und so wollen wir auch nicht, dass andere traurig sind, schon gar nicht unsere Kinder.
Wir wollen nicht traurig sein
Warum wollen wir nicht traurig sein? Was ist schlimm daran, traurig zu sein? Wir können die Erfahrung machen, dass Traurigkeit nicht schlimm ist, sondern einfach ist, wie sie ist. Dann kommt und geht sie und hört auf und kommt wieder. Sie hat damit zu tun, dass wir die Situation, so wie sie ist, nicht haben wollen. Wir wollen – und das kann nun wirklich jeder gut verstehen und an sich nachvollziehen – nicht ernsthaft krank sein, und unsere Kinder nicht ernsthaft erkrankt sehen. Kann es Traurigkeit geben, ohne dass wir etwas an der Situation ändern wollen oder sie einfach anders haben wollen? Wohl kaum.
Traurigkeit hört auf, wenn nichts anders sein soll, als es ist
Und dann und wann kann man die Erfahrung machen, dass in dem Augenblick, in dem nichts anders sein soll, alle Traurigkeit verschwindet. Ich habe das an einem entfernt verwandten Elternpaar beobachtet, die ihre beiden einzigen Kinder innerhalb von ein paar Jahren im jungen Erwachsenenalter verloren haben. Beide waren an einer plötzlichen Krankheit gestorben. Ich konnte sehen: Nach einiger Zeit waren die Eltern nicht mehr traurig, sondern ruhig und friedlich. Sie hatten sich, so würde ich es – und auch sie selbst – beschreiben, auf die spirituelle Reise der Hingabe an das Leben eingelassen. Sie hatten aufgehört zu hadern. Sie waren ruhig und zufrieden. Und in dieser Haltung sind sie später selbst gestorben. Es erinnert mich an die vielen Zen-Geschichten, in denen die Zen-Meister überaus hart mit ihren Schülern umgegangen sind: Die Meister haben die Novizen geschlagen, aus dem Fenster geworfen, ihnen mit der zufallenden Tür die Knochen gebrochen und sogar Finger abgeschnitten. Nicht gerade fein, oder? Es ist aber eine Beschreibung davon, wie das Leben uns ausgesprochen hart anpacken kann. Dann und wann kann diese Härte des Lebens – bei manchen Menschen – zu einer überaus bewundernswerten Reife führen.
Sollen wir jetzt versuchen, nicht mehr traurig zu sein? Das ist ja wohl Unsinn. Wir können jedoch auch beobachten, dass Traurigkeit, über den Verlust von Gesundheit, von Partnern oder sonst etwas, endet, wenn wir nichts damit machen. Nichts damit machen schließt ein, die Traurigkeit nicht verändern zu wollen, nicht weg haben zu wollen, und dann vielleicht sogar den Widerstand gegen das Schicksal aufzugeben. Dann tritt Frieden ein.
Widerstand gegen das Leben oder sich dem Leben überlassen
Und das ist es, worum es für mich im Leben geht: Den Widerstand aufzugeben. Ich entdecke den Widerstand gegen das Leben, so wie es ist, überall: in mir und in allen meinen Patienten. Er ist geradezu die Grundlage aller psychischer Symptome, derentwegen die Pat. mich aufsuchen. Nach einiger Arbeit und viel Lebenserfahrung kommt es dann immer wieder dazu, dass Menschen aufhören, dem Leben, so wie es ist, Widerstand entgegenzusetzen. Das nenne ich Hingabe an das Leben. Sie fühlt sich zutiefst vertrauensvoll und voller Glück an. Kein Kick oder Thrill, einfach stilles Glück oder Zufriedenheit. Da kann vieles geschehen, und es passt. Das ist, was geschieht, wenn man es aufgibt, zu leiden.
Man kann Hingabe an das Leben nicht herstellen
Das Dumme daran ist, dass man es nicht machen, nicht herstellen kann. Es ist das, was passiert, wenn man nichts mehr tut. Oder besser gesagt: An nichts mehr „herummacht“. Denn obwohl man nichts tut, bleibt ja nichts ungetan. Ich erkläre das gerne so: Wenn ich Durst habe, ist der Gang zum Wasser und Trinken nichts, was ich als „Herummachen“ beschreibe. Es ist einfach das notwendige und natürliche Handeln. Trinken ist nicht der Widerstand gegen Durst. Einatmen ist nicht der Widerstand gegen Ersticken. Es ist ein vollkommen natürlicher, angemessener Akt, es ist der harmonische Umgang mit dem, wie es ist, die Hingabe an das, was ist. An etwas „herummachen“, der Widerstand, katapultiert mich aus der Harmonie, aus der Zufriedenheit. Wenn ich z.B. schneller atmen will, um mehr Luft zu bekommen, um einen Vorrat an Luft anzulegen für später. Beim Atmen ist das absurd. Sonst erscheint dieses Bestreben ganz normal, obwohl es ganz offensichtlich die Grundlage vieler unserer Leiden ist.
Ist der Sinn des Lebens, sich dem Leben zu überlassen?
Sich völlig dem Leben zu überlassen, macht Lebendigkeit aus. Diese Hingabe an das Leben ist für mich der Sinn das Daseins. Das sich-dem-Leben-überlassen entspricht Liebe und Freiheit und Sein. Es kann nicht getan werden, es ist das, was übrig bleibt, wenn nichts mehr getan wird, wenn nichts mehr dazu addiert wird, wenn nichts mehr eingesammelt und erreicht wird. Deswegen sagen die Zen-Meister, dass es gar nichts zu erreichen gibt im Leben.