„Schmerz ist unvermeidlich, Leiden gibt es auf Verlangen dazu“
Unser Umgang mit Gefühlen ist oft ein Versuch, nicht zu fühlen
Gefühle haben wir, um sie zu fühlen. Eigentlich. Nun haben wir aber wohl alle gelernt, bestimmte Gefühle zu fürchten. Und dann liegt es nahe, sie besser erst gar nicht zu fühlen. Das scheint ein kontinuierliches Training seit Kindertagen zu sein: Wie stelle ich es an, Gefühle nicht zu fühlen?
Kinder fühlen einfach
Wenn man jüngere Kinder, vielleicht ein 2-3 jähriges Kind, betrachtet, kann man beobachten, dass sie alle Gefühle noch fühlen, wie sie eben der Reihe nach kommen: Zuerst die Freude beim Dreirad fahren, dann die Frustration beim Sturz, der Frieden beim Trösten, der Spass mit der Streichelkatze, neues Leid beim Tatzenhieb, und so geht es immer weiter. Sie halten die Gefühle nicht zurück.
Später lernen die Kinder, sich für bestimmte Gefühle zu schämen, sie nicht mehr zu zeigen, sie zu unterdrücken, zu überspielen und weg zu machen. „Es hat ja gar nicht weh getan!“
Bestimmte Gefühle lieber nicht fühlen
Bestimmte Gefühle sind besonders verpönt und so schmerzhaft, dass viele sie nicht spüren wollen: Ohnmacht, Hilflosigkeit, verlassen sein, Einsamkeit, ausgeschlossen sein, zu kurz gekommen sein, Scham, Bedürftigkeit, abgewiesen sein, Trauer, Enttäuschung und vermutlich viele mehr. Wir wehren diese Gefühle ab, so gut wir können. Es sind die abgewehrten Gefühle, primäre emotionale Antworten auf Verletzungen. Es sind Wahrnehmungen des Schmerzes.
Gefühle, die andere Gefühle übertünchen
Andere Gefühle nutzen wir, um diese abgewehrten ungeliebten Gefühle los zu werden oder zu übertünchen: Wut, Hass, Eifersucht, Misstrauen, Geiz, Neid, Missgunst, Gier, Vergnügen (ein Wort, das ich benutze, um einen bloßen Abglanz von echter Lust und Freude zu bezeichnen), Selbstgefälligkeit, Sturheit und viele andere. Diese Gefühle sind verschiedene Ausdrücke von Angst. Es sind die abwehrenden Gefühle, eine Schutzschicht gegen den Schmerz.
Das Konzept dieser primären und sekundären Gefühle (ich habe es dem Kern-Schalen-Modell von C. Thomann entlehnt und Begriffe von Samuel Widmer übernommen) muss nun keiner glauben. Vielleicht kannst Du nachspüren, was hinter Deiner Eifersucht oder hinter dem Neid liegt. Bei mir entdecke ich Angst vor Verlassenheit, oder hinter der Wut eine Hilflosigkeit.
Sich spüren in der Psychotherapie
Wenn in den Sitzungen einer Psychotherapie oder Gruppentherapie Gefühle auftauchen, fordere ich die Klienten auf, genau zu spüren. Und immer mehr zu spüren, was noch da ist. Oft beginnen wir mit dem Spüren des Körpers, dann benennen wir die Gefühle. Und dann spüren wir, was in der Begegnung passiert, zwischen den Menschen in der Gruppe, zwischen uns im Zweierkontakt, wenn das Gefühl da ist: Es entsteht Kontakt, eine Verbundenheit, eine Nähe, die dadurch zustande kommt, dass sich Menschen antreffen und treffen lassen. Das ist, wie wenn Eis schmilzt oder ein Panzer weich wird. Diese Entwicklung ist für alle heilsam und berührend, für den, der spürt und den, der mitfühlt. Auch ich bin Teil dieser Erfahrung, weil ich mich berühren lasse.
In den Therapiegruppen berichten danach die Teilnehmer häufig, dass diese Sitzungen, in denen man solche inneren Gefühle zulässt, zu den wichtigsten Sitzungen gehörten, für alle Anwesenden.
Lebendigkeit: Alle Gefühle dürfen da sein!
Was kann man erfahren, wenn man hinter die schmerzhaften abgewehrten Gefühle taucht? Gefühle, die da sein dürfen und fließen, die nicht mehr überdeckt oder weg gemacht werden müssen, fühlen sich lebendig an. Das kann genauso die Traurigkeit sein wie die Freude. Es fühlt sich lebendig an und verbindet mit dem Leben, mit der Lebenslust und auch der Liebe. Der Schmerz mag noch da sein, aber das Leiden ist überwunden. Ganz am Ende steht nach meiner Erfahrung ein Zustand von Frieden.
So verstehe ich den buddhistischen Satz: Der Schmerz ist im Leben unvermeidlich, Leiden gibt es auf Verlangen dazu.