Ist man verantwortlich für die Folgen seines Handeln, und will man das überhaupt sein? Erntet man, was man sät?
Gut, wenn man etwas für sich tun kann
In meiner Arbeit lade ich zur Selbstverantwortung ein. Meine Überlegungen sind recht schlicht: Wer etwas dazu beitragen kann, wie es ihm selbst geht, ist klar im Vorteil, wenn er/sie etwas verändern mag. So frage ich nach diesen Beiträgen („Was hast Du dazu getan, dass die Situation so wurde? Was tust Du jetzt, dass die Situation, dein Gefühl, dein Umfeld so ist?“) und lade auch in den Sitzungen ein, unterschiedliches Handeln auszuprobieren. Wenn ich bemerke, dass jemand gerade etwas getan hat, womit es ihm gut ging, womit er sich z.B. gut für sich selbst eingesetzt hat, unterstreiche ich das.
In den Gruppen lade ich ein, zu erforschen, was passiert und wie es passiert. Manchmal in Experimenten, manchmal mit der Anregung, den laufenden Prozess zu beobachten. („Ah ja, wenn die das macht, reagiere ich so, ist ja interessant, und wenn ich das so mache, dann hat das wieder diese Konsequenz bei den anderen….“) Meist ist es gut, wenn das auch ausgesprochen wird (in diesem Raum erscheint ein Erkennen ohne Sprache nicht möglich). Irvin D. Yalom, an dem ich mich seit Jahren in der Gruppentherapie orientiere, nennt das in seinem Buch „Therapie und Praxis der Gruppenpsychotherapie: Ein Lehrbuch“ die Arbeit am Prozess im Hier und Jetzt der Gruppe, die er für die wichtigste Kraft bei der Veränderung von psychischen oder psychosomatischen Leiden im Rahmen einer Therapie hält. Es geht ihm darum, dass die Patienten erkennen: „So mache ich das – und das sind dann die Folgen.“
Das mache ich – und das sind die Folgen
Handeln und Denken hat Auswirkungen. „Willst Du diese Auswirkungen Deines Tuns?“
Sehr offensichtlich kann es ganz schön anstrengend sein, sein eigenes Tun zu erkennen und neue Wege auszuprobieren. „Dann muss ich ja wieder alles selbst machen!“ Eigentlich wäre es doch toll, der Therapeut (oder wenigstens die Therapie) könnte das Leben verändern – so wird oft gedacht. Am besten eine Operation in Narkose: man wacht auf, alles ist gerichtet, und nach ein paar Tagen postoperativer Schmerzen ist die Welt kaum wieder zu erkennen! Deswegen wird wohl auch Hypnose so gerne nachgefragt: Jemand – der Hypnotiseur – macht etwas, ich muss nichts tun.
„Da müssen Sie doch etwas machen können! Warum sorgen Sie nicht einfach dafür, dass es mir wieder gut geht? Sie müssten es doch wissen, wie es mir geht und was mir hilft, Sie sind der Arzt!“
(Oft muss ich schmunzeln über die regelmäßig auftauchende Frage von Patienten: „Herr Doktor, wie geht es mir? Können Sie mir das sagen“? Eingeübte Konzepte vom Arzt-Patient-Verhältnis schlagen hier durch. Natürlich kann ein Arzt nie sagen, wie es dem Patienten geht. Er kann ihn höchstens über seine Befunde aufklären, vielleicht einen vagen Blick in die Zukunft werfen, also eine Prognose abgeben, mit all den Unsicherheiten, die damit verbunden sind. Alles, was der Arzt sagt (die Art, wie er Befunde benennt, welche Zukunftsaussagen er trifft, wie er die Therapie erklärt), kann ändern, wie es dem Patienten geht, und nur der Patient fühlt, wie es ihm geht. Also habe ich diese Frage noch nie beantwortet, sondern ich lasse mir als Antwort erzählen, welche Selbstbeobachtungen der Patient gemacht hat. Ich registriere auch, dass sich das Gefühl des Patienten rasch ändern kann, wenn ich mit kleinen Fragen auf bestimmte Erfahrungen hinweise.)
Selbstverantwortung ist nicht identisch mit Selbstoptimierung
Selbstverantwortung bedeutet nun klar nicht die Allmacht des Menschen. Man kann nicht alles tun oder alles verändern. Man kann nicht jedem Unheil entrinnen. Man kann noch nicht einmal alles so interpretieren, wie es die eigenen Illusionen gerne hätten. Positives Denken (oder kreatives Fort-Illusionieren) funktioniert auch nicht immer. Selbstoptimierung – das augenblickliche Credo unserer narzisstischen Gesellschaft – ist nicht mit Selbstverantwortung identisch.
Selbstverantwortung ist eine Weise, wie der Mensch seinen Umständen, seinem Kontext, seinen Bedingungen begegnet. Es ist eine Weise, seine Fähigkeiten auszuloten, oder auch zu erweitern, und Beschränkungen anzuerkennen. Ich bin völlig einverstanden, wenn jemand in unserer gemeinsamen Arbeit erkennt, dass es ihn zu viel Kraft kostet, seine Fähigkeiten zu erweitern oder auch nur zu entdecken. Ich bin einverstanden, wenn jemand erkennt: „Mensch, ich schaffe das einfach nicht. Das überfordert mich total.“ Das ist Selbstverantwortung. In der Begegnung mit einem Menschen, der diese Art von Selbstverantwortung praktiziert, kann man das spüren: es fühlt sich leicht an, auch wenn es traurige Wahrheiten sind. Dieser Mensch ist einfach mit dem, wie es für ihn ist. Ich als Gegenüber trage keine Bürde, etwas tun zu müssen. Und kann doch etwas tun, besser: einfach so und da sein, dass eine Begegnung möglich wird und vielleicht entsteht.
Verantwortung abgeben führt zu Machtbeziehungen
Wenn jemand die Verantwortung für sein eigenes Erleben an jemanden anderen, z.B. an den Therapeuten, abzugeben versucht, stockt der Fluss in der Begegnung. Es mag ein Arrangement sein: Macht und Einfluss werden auf der einen Seite, Abhängigkeit und dafür auch Versorgungsrechte werden auf der anderen Seite verbucht. Für mich wird das unlebendig. Wenn ich es als Psychotherapeut ablehne, die Verantwortung (für das Leid, für die Veränderung, für die Heilung) eines Patienten zu übernehmen, kommt es gelegentlich zu einem Kampf, mich zu überzeugen, dass ich doch die Verantwortung übernehmen solle. So kann man Kontrolle über den anderen gewinnen: Du musst für mich Verantwortung übernehmen. Als eine Art von Zwang.
Schuldgefühle führen zu Verantwortungslosigkeit
Manchmal geht es darum, keine Schuld zu tragen an der eigenen Misere. „Wenn ich etwas selbst ändern kann, muss ich ja wohl selbst schuld daran sein, dass es bisher so war, oder?“ Dann wird es moralisch, und viel Energie wird darauf verwendet, sich rein zu waschen, indem man nachweist, dass der andere, die Umstände, die frühen Erfahrungen schuld seien, damit man selbst gut da steht. Man muss sich dann beweisen, dass man auf keinen Fall selbst etwas verändern kann, sonst hat man den moralischen schwarzen Peter der Schuld. Der Preis dürfte dann leider außerdem sein, dass keine Energie übrig bleibt, etwas zu verändern. Schon an anderer Stelle habe ich darauf hingewiesen, dass mit „Schuld“ eine Veränderung kaum möglich ist.
Würdigung von Leid
Das Anerkennen von Selbstverantwortung wird manchmal so verstanden, dass dann keine Würdigung für erlittenes Leid möglich sei: „Du schusterst mir Verantwortung für mein Leben zu, damit Du nicht würdigen musst, wie schlecht mein Leben ist!“, „Du betonst die Selbstverantwortung, weil Du kein Mitgefühl für das erlittene Trauma hast.“ Man ist doch nicht schuld an einer Vergewaltigung und ihren Folgen. Wie soll man da Verantwortung übernehmen?
Würdigung von Leid und Mitgefühl sind wichtig, und ihr wohnt auch eine Veränderungskraft inne. Selbstverantwortung macht natürlich nicht das unrechte oder verletzende Verhalten von anderen ungeschehen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass sogar nach einem Trauma Bewegungsmöglichkeiten bestehen. Sie mögen gering sein, und doch lohnt es sich, danach zu suchen. Die Entwicklung geht dann vom Opfer zum Handelnden. Wie wäre es, wenn man kein Traumaüberlebender mehr wäre, sondern jetzt das Leben ausloten würde? Kann man die alte Geschichte loslassen? Oder gehört sie und der daraus abgeleitete Zustand zur Identität? Könnte die alte Geschichte zur persönlichen Historie werden, um die Freiheit der Lebensentfaltung jetzt zu gestalten? Vielleicht geht es nicht?