Wie können wir Schuldgefühle ablegen?
Brauchen wir Schuldzuweisungen, um Macht und Kontrolle in Beziehungen auszuüben?
Diesen Text habe ich Anfang 2015 an eine Gruppe geschickt, und ich bin dieser Tage darüber gestolpert:
„Liebe Gruppenteilnehmer,
das Thema Schuld aus der gestrigen Gruppe arbeitet noch in mir. Ich nehme mir die Freiheit, noch ein paar Gedanken dazu zu äußern.
Schuldgefühle verhindern Selbstannahme
Aus meiner psychotherapeutischen Haltung heraus geht es um Annahme (von sich selbst, von Menschen) und die Möglichkeiten der Veränderung (von sich selbst). Schuldgefühle und Schuldzuweisungen verhindern Annahme, sowohl Selbstannahme als auch die Annahme von anderen in ihrem Wesen. Insofern wirkt Schuld trennend. Und das Gegenteil, z.B. Entschuldigung oder Vergebung, wirkt verbindend. (Dies ist ja auch eine Grundlage des Christentums: Überwindung der Trennung von Gott durch eine ein-für-alle-mal gültige Vergebung).
Das kennt auch jeder aus seinem Leben als die Macht von Versöhnung, die starke Qualität von Verbindung z.B. nach einem Streit, die in Paaren oder Familien mit einem großen Gefühl von Liebe und Herzöffnung einhergeht.
Schuldgefühle führen zu dem Gefühl des Getrenntseins
Wer andererseits Schuldgefühle bunkert, fällt damit immer wieder in ein Gefühl des Getrenntseins, ziemlich gleichgültig übrigens, ob man sich selbst schuldig fühlt oder aber anderen Schuld zuweist.
Schuld ist sicher der richtige Begriff für bestimmte Formen von Übertretung von ethischen Normen. Oder auch im Rechtswesen. Der Täter trägt Schuld.
Selbstannahme heilt
Vielleicht kann man das ganze Thema hier am besten verdeutlichen: Der Täter wird „heil“, wenn er Verantwortung für die Folgen seiner Taten übernimmt, vielleicht eine Wiedergutmachung leistet, wenn das geht, sich in Opfer und Angehörige z.B. hineinversetzt und mitfühlt und in Gegenwart und Zukunft sich mitfühlend verhält. Ein Täter wird nicht heil, wenn er seine Taten verleugnet und auch nicht, wenn er sich in Schuldgefühlen aalt. Vermutlich muss er sich die Tat vergeben, d.h. dem Täter vergeben, ohne aber die Tat gut zu heißen. Die Trennung von Tat und Täter ist übrigens oft ein guter Ausweg aus Zwickmühlen im Umgang mit Taten oder erlittenen Verletzungen. Ich glaube also, dass der Täter heil wird, wenn er sich selbst annimmt.
Fehler erkennen – nicht werten – ändern
Im Umgang mit eigenen Fehlern (eigener Schuld) ist es deswegen von Vorteil, wenn man die Reihenfolge einhält: 1. Fehler erkennen. 2. Nicht werten, sich annehmen. 3. Ändern.
Meist machen wir folgendes: 1. Fehler erkennen. 2. Uns (ab-)werten, schuldig fühlen. 3. Alles beim Alten lassen. 2. und 3. hängen unmittelbar zusammen. Eventuell liegt das an einem Element von Trotz gegen Abwertung, die uns „das dann ‚grad noch ‚mal“ machen lässt – wie wir es vom Schulhof kennen, hinter dem Rücken des Lehrers z.B.
Anerkennung von Schmerz
Ein Schuldeingeständnis tut Opfern in der Regel gut. Es geht nämlich um die Anerkennung des Leides und Schmerzes, den sie ertragen mussten, und wenn der Verursacher das von Herzen kann, dann ist viel gewonnen. Auch wenn es manchmal Zeit braucht. Das Opfer wird also heil, wenn es Anerkennung seines Schmerzes erfährt. Schuldzuweisung ist häufig der Wunsch nach Anerkennung. Das ist sehr verständlich. Leider aber funktioniert das so im Kontakt mit dem Täter nicht oft: Beim Täter nicht, weil er sich gegen Schuldzuweisung und Scham wehrt (führt nämlich zur Selbstabwertung) und beim Opfer nicht, denn so bekommt man ja nicht, was man ersehnt.
Auch Wut braucht Anerkennung
Wir hatten es gestern von Trennungen in Partnerschaften. Wer trägt Schuld? Wer profitiert von Schuldzuweisungen? Wer hat etwas von Schuldgefühlen? Ich meine, dass man sich ohne Schuldgefühle trennen darf. Der Schmerz des Verlassenen (und, wenn vorhanden, auch des Verlassenden) braucht Anerkennung. Auch die Wut braucht eine Anerkennung. Vielleicht kann das aber nicht immer im Paar geschehen, weil das Geben und Nehmen oft nicht funktioniert (Wie hört es sich denn an, wenn der, der aus der Beziehung gehen will: „Ich verstehe Deine Wut, ich sehe und verstehen Deinen Schmerz“? Selbst wenn das stimmt: Sehr häufig wird das der andere in seinem Schmerz gar nicht hören geschweige denn annehmen wollen, und sich über die Verhöhnung beklagen und vielleicht ein „gar nichts verstehst Du!“ zurückschleudern). Zum Glück kann das auch stellvertretend von anderen praktiziert werden.
Verletzen oder in Kontakt mit Schmerz bringen?
Ich mache in diesem Zusammenhang auch gerne noch eine Unterscheidung: die zwischen „Schmerz zufügen“ (eigentlich: „durch eigene Taten den anderen in Kontakt mit seinem Schmerz treten lassen“) und „verletzen“. Ich erkenne im Wort „verletzen“ eine Absicht. Ein „ich bin verletzt“ hört sich oft an wie „Du hast mich verletzt und bist jetzt schuldig daran!“ Dagegen möchte ich z.B. in Trennungen das „in Kauf nehmen von Schmerzen beim anderen“ setzen. Das ist nicht mit der Absicht zu verletzen verknüpft, aber im Bewusstsein, dass dieser Schritt nicht möglich ist, ohne dass der andere Schmerzen erleidet, obwohl man es sogar anders wünschen würde. Hier Schuld zu sehen, fasste nach meiner Auffassung den Schuldbegriff zu weit. Es geht eher um Verantwortung für mein Handeln und das Tragen der Konsequenzen.
Produktion von Schuldgefühlen zur Machtausübung
Das führt mich noch zu einem anderen Aspekt, den der Machtausübung nämlich. Schuldgefühle werden offensichtlich zur Lenkung von Menschen gebraucht. In einer Trennung z.B.: „Wenn Du gehst, bringe ich mich um, und Du bist dann schuld, denn Du hast mich so verletzt!“. Wer sich hier nicht aus seinen Schuldgefühlen zu befreien weiß, hat ganz schlechte Karten, und die meisten verstehen, dass diese Art von Schuldzuweisung keinen Bestand haben kann.“
Kontrollillusion durch Schuldgefühle
Hier noch eine Ergänzung :
Schuldgefühle werden von manchen gebraucht, um eine Kontrollillusion aufrecht zu erhalten. Das Kind hat erlebt, wie in einem Unfall die Schwester stirbt. Es entwickelt die Vorstellung, es hätte durch eine wie auch immer geartete Handlung seine Schwester retten können. Da es die Schwester aber nicht gerettet hat, trägt es nun Schuld.
Ich nenne das eine Kontrollillusion, den Versuch, Kontrolle über das Leben zu haben.
Kinder versuchen übrigens häufig, auf diese Art Weise Kontrolle über ihr Leben und das Unkontrollierbare zu übernehmen. Sie geben sich leicht selbst die Schuld dafür, dass zum Beispiel die Eltern nicht gut mit ihnen umgehen. Es ist immer noch besser, sich selbst als den Schuldigen anzusehen, als gar nicht zu wissen, was hier und warum es so geschieht.