Wenn wir Enttäuschung beklagen, wollen wir dann lieber in der Täuschung verharren?
Unter den vielen Gefühlen, die Menschen beklagen, ist das Gefühl der Enttäuschung ein starker Anwärter auf einen Podiumsplatz. Es würde mich interessieren, ob es dazu eine Statistik gibt. Das muss es wohl, denn ganz offiziell kann man die Diagnose einer „Posttraumatischen Verbitterungsstörung“ stellen.
Entäuschungswut und Enttäuschungstraurigkeit
Enttäuschung geht unausweichlich mit Wut und Traurigkeit einher, sie entspricht aber nicht einer reinen Wut oder einen reinen Traurigkeit – wir können den Unterschied spüren. Wenn jemand enttäuscht ist, kann er sagen, dass er traurig ist, aber er erkennt auch, dass da noch mehr ist, nämlich Wut. Bei einer puren und unverblümten Traurigkeit – wie wir sie bei Kindern leicht erleben können – muss es keine Wut geben.
Wer hat sich oder mich oder wen getäuscht?
Das Phänomen der Enttäuschung scheint doch darauf hinzuweisen, dass vorher eine Täuschung stattgefunden hat. Es stellt sich dann die Frage: wer hat getäuscht? Oder hat sich jemand getäuscht?
Nahezu immer kann ich in den Gesprächen heraushören, dass sich die Menschen selbst täuschen. Sie machen sich Illusionen über andere und deren Verhalten, deren Absichten, der Gefühle, und wenn dann die Wahrheit offenbar wird, können sie an den Illusionen nicht länger festhalten. Die Täuschung wird klar.
Fast nie würde jemand sagen: Oh, ich habe mich getäuscht. Nein, quasi unausweichlich sagt jeder: Da bin ich so enttäuscht (von Dir)!
In der Enttäuschung zum Opfer werden
Wenn ich es so ausspreche: „Ich bin enttäuscht“, dann suche und sehe ich die Schuld dafür im Außen, also im anderen Menschen. Manche sagen auch, dass sie enttäuscht von der Natur sind: „Ich bin war ja so enttäuscht, dass es geregnet hat“, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass man etwas persönlich nimmt, und damit auch dem Nicht-Persönlichen wie der Natur so etwas wie ein Gegenüber zuweist, das nicht mitarbeitet, sich nicht an die Regeln hält oder sich gegen einen verschworen hat. Wenn das nicht der Fall ist, würde man wohl eher sagen: das war schade, dass es geregnet hat, leider war es so. Aber das sind Fakten, die nicht mich selbst meinen, ich nehme es nicht persönlich.
Orientierung an der Realität
Der Begriff der Enttäuschung und den Zustand, den er beschreibt, zeigt also auf den Sprecher selbst als Opfer (der anderen, der Umstände), und er zeigt auch auf einen Mangel an Orientierung an und in der Realität. Von der Realität selbst geht nämlich keine Enttäuschung aus. Die Realität ist einfach.
(Vor wenigen Wochen wies Bernhard Pörksen in „Die Zeit“ auf die schöne Definition von Realität hin, die der Science-Fiction-Autor Philip Kindred Dick gefunden hat: «Realität ist das, was nicht weggeht, auch wenn man nicht daran glaubt.»)
Bezüglich der Realität kann man sich natürlich Täuschungen hingeben. Ich könnte z.B. die Erde für eine Scheibe halten. Dann segle oder fliege ich einmal um die Welt und erkenne, dass die Welt ein Globus ist. Die Täuschung ist hier beendet. Es wäre dann ziemlich absurd, sich tief gekränkt und verletzt zu fühlen, dass sich die Erde nicht an meine Täuschung hält.
Ist Enttäuschung absurd? Oder ein notwendiger Übergangsprozess?
Wieso machen wir das bei Menschen und den Täuschungen, denen wir uns im Kontakt mit den anderen hingeben, ganz anders? Wir fühlen uns mit Fug und Recht enttäuscht. Ist das aber nicht auch absurd? Mit genügend Abstand können wir hier erkennen, wir verrückt es ist, auf Kränkung, Verletzung, Wut usw. zu pochen, wenn eine Täuschung klar wird. Emotional würden wir so gerne an der Täuschung, die doch die bessere Welt war, festhalten. Aber die Welt war nur in der Illusion besser. Realität ist aber, was ist. Das Gefühl der Enttäuschung kommt einer Realitätsverweigerung gleich. Sie ist im besten Fall ein Übergang, die Zeit, den der Prozess der Erkenntnis der Realität benötigt, und endet nach diesem Prozess. Nur allzu oft kommen aber Menschen zu mir, die Jahre und Jahrzehnte mit ihren Enttäuschungsgefühlen kämpfen – oder besser: sie konservieren und pflegen, bis sie quasi ihre Identität ausmachen.
Bereit für die rote Pille
Wenn man sich selbst getäuscht hat und das auch so ausspricht, nimmt man die Verantwortung zu sich. Das kann man spüren, wenn man es so formuliert: Ich habe mich getäuscht. Nun sehe ich doch mal hin, wie das Leben jetzt ist. Dann stelle ich mich auf die für mich neuen Gegebenheiten ein (die für andere durchaus schon lange nicht mehr neu sein müssen, da sie es früher gesehen haben könnten). Keinesfalls will ich einer Illusion anhängen, die ich mir von der Welt mache, sondern ich will die Welt sehen und erfahren, wie sie ist, oder wie es mir eben möglich ist. Ich bin bereit für die rote Pille. Danke für den Augenöffner.