Psychotherapie ist ein beliebte Projektionsfläche für Allmachtsfantasien. Was sind die Grenzen dessen, was sie leisten kann?
„Psychotherapie kann Krebs heilen“
Vor etlichen Jahren kam eine ältere Frau zu mir, die an einem Lungenkrebs litt. Der Krebs war nach ihren Angaben weit fortgeschritten. Sie hatte eine Operation, Bestrahlungen und eine Chemotherapie hinter sich. Dennoch war der Krebs zurückgekehrt, und es hatten sich Metastasen an verschiedenen Körperstellen gebildet. Man musste kein spezialisierter Arzt sein, um zu erkennen, dass sich die Frau am Übergang zum Tod befand.
Ihr Wunsch an die Psychotherapie war: Da doch Krebs eine psychosomatische Erkrankung sei, sollte man doch mit Psychotherapie etwas bewirken können, also heilen. Das habe sie gelesen. Oder wenigstens mit Hypnose, die sei doch auch erwiesenermaßen wirksam.
Hoffnung oder Realismus?
Ich kam in eine gewaltige Bredouille! Offen gesagt: Angesichts der Luftnot, der grauen Farbe der Patientin und der berichteten Behandlungsergebnisse dachte ich, dass die Patienten sich besser auf das Sterben vorbereiten, als auf eine doch sehr, sehr unwahrscheinliche Heilung hinarbeiten sollte. Wäre es nicht das Klügste, sie mit ihrer Verleugnung der Realität zu konfrontieren?
Andererseits: Darf ein Arzt dem Patienten seine Hoffnung nehmen? Kann ich wirklich behaupten zu wissen, wann das Sterben beginnt? Könnte es nicht sein, dass doch Wunder geschehen?
Die Patientin kam insgesamt nur zu 3 Sitzungen. Ihr Sohn informierte mich, dass sie zum vereinbarten 4. Termin wegen einer Notfallaufnahme ins Krankenhaus nicht kommen könnte. Danach kam sie nicht mehr.
Krebs, Tod und Psyche
Es gibt ein paar wissenschaftliche Fakten, die in diesem Fall interessant sind:
- Krebs ist nicht auf psychische Umstände zurückzuführen. Jahrzehnte der Forschung haben keine belastbaren Belege für diese These finden können.
- Dennoch ist es auch erwiesen, dass die Psyche beim Überleben einer Krebserkrankung eine Rolle spielt. Z.B. ist es mit einem „fighting spirit“ (statt aufzugeben) wahrscheinlicher, dass man überlebt.
- Auch Hypnose – besser: übende Selbsthypnose! – ist nachweislich wirksam beim Überleben von Krebs und in der Wirksamkeit der Behandlungen bzw. beim Verhindern von Nebenwirkungen der Behandlungen.
- Es gibt viele Belege, dass der Tod dadurch herbeigeführt werden kann, dass man der Überzeugung ist, man müsse sterben: eine Art negativer Selbsthypnose wird hier wirksam.
- Zum Sterbeprozess gehört für viele Menschen die Leugnung, ein Sterbender zu sein, bevor man sich mit dem Sterben arrangiert.
Bei dieser Patientin habe ich versucht, durch vorsichtiges Fragen darauf hinzuweisen, dass es ja eine Möglichkeit sein könnte, sich mit dem Sterben zu befassen, und mit der Trauer das Ende des Lebens oder auch nicht gelebtes Leben. Sie hat aber in unserer Gesprächszeit darauf gedrängt, dass wir nur am Überleben und an der Heilung arbeiten sollten.
Verleugnung von Hilflosigkeit
Dieser Patienten ging es wirklich an den Kragen. Sie spürte das, auch wenn sie es im bewussten Denken nicht wissen wollte. Hilflosigkeit und Ohnmacht sind schreckliche Gefühle. Sie gehören zu den Formen von Schmerzgefühlen (wie auch Scham, Verlassenheit und viele mehr). Die meisten Menschen versuchen diese Gefühle abzuwehren. Trauer wird auch oft abgelehnt. Verleugnung ist eine gute Möglichkeit dafür. Ich kann das gut verstehen. So kann man das Leben ein wenig leichter so aufrecht erhalten, wie man es gewohnt war. Eine unheilbare Krankheit ist wohl bei den meisten Menschen dazu geeignet, Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit auszulösen, aber auch viele andere Zustände sind dazu geeignet.
Probleme und Restriktionen – Erkrankungen und Behinderungen
Menschen kommen manchmal mit durch Psychotherapie nicht beeinflussbaren Zuständen zu mir. Das sind Restriktionen. Sie dürfen nicht mit lösbaren Problemen verwechselt werden. Auch klassische psychische Erkrankungen gehören dazu. Nicht jede Depression oder Angsterkrankung ist veränderbar, obwohl Psychotherapie in der Behandlung dieser Störungen klar indiziert ist und versucht werden sollte. Eine Aufgabe der gemeinsamen psychotherapeutischen Arbeit ist es, das herauszufinden. Wenn etwas nicht veränderbar ist, obwohl man es sich so sehr wünscht, geht es um Trauer, dass das Leben mit solchen Schwierigkeiten aufwartet. Wir können einen Umgang damit suchen, dass sich etwas nicht verändern lässt. Es wie mit einer körperlichen Behinderung, die nicht verändert werden kann.
Allmachtsfantasie und Begrenzungen
Psychotherapeuten (vor allem wohl Männer und wenn sie jünger sind?) ergeben sich dem Irrglauben, alles wäre (mit ihrer Methode) machbar: „Da muss man doch nur …. Da macht man doch einfach…. !“ Das kommt Allmachtsfantasien gleich, denen Patienten nur allzu gerne und mit gut zu verstehenden Motiven folgen. „Dem Ingeniör ist nichts zu schwör!“ Hier wird es locker auch einmal kindisch, wenn ein kindlicher Wunscherfüllungs(aber)glaube klares Denken und Realitätssinn ablöst (Realitätssinn ist in diesen Zeiten von fake-news-Vorwürfen auch gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, sooft es einem politisch in den Kram passt, auch nicht mehr so hoch im Kurs).
Begrenzungen werden von einigen als Kränkungen erlebt (vom Leben zugefügt? Oder vom Überbringer der schlechten Botschaft zugefügt?). Dann werden Patienten ganz schön wütend, wenn sie von mir hören, dass ich nichts für sie tun kann, dass ich zumindest nicht den Auftrag annehme, die Symptome zum Verschwinden zu bringen.
Realismus und Wahrhaftigkeit
Ein Arzt sollte wahrhaftig sein. Er sollte keine unrealistischen Erwartungen schüren. Das ist vielleicht schlecht für die „Verkaufszahlen“. Das schützt vielleicht nicht davor, unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen. Aber es ist redlich.
Und dafür muss ein Psychotherapeut in der eigenen Selbsterfahrung oder Psychotherapie so viel innere Entwicklung gemacht haben, dass er nicht verleugnen muss, dass er keine kindlichen Wunscherfüllungsträume pflegt und dass er nicht selbst in einer Allmachtsfantasie alle Hoffnungen auf die Psychotherapie projiziert.