Manche Patienten diskutieren mit mir die Angst vor der Entwicklung einer Abhängigkeit. Dabei scheinen es vor allem Patienten zu sein, die ich als „unterbemuttert“ und „unterbevatert“ benennen könnte.
Die Kunst der Abhängigkeit
Als freiheitsliebender Mensch kann ich alle gut verstehen, die sich vor Abhängigkeiten in Acht nehmen. Dazu zählt auch die Abhängigkeit von einer Psychotherapie oder dem/der PsychotherapeutIn.
Nun habe ich schon früher geschrieben, dass es sich bei Unabhängigkeit wohl eher um die Kunst der Abhängigkeit handelt. Totale Unabhängigkeit ist eine Illusion. Noch bevor der Tag ein paar Minuten alt ist, sind wir von der halben Welt abhängig: Strom, Wasser, Kaffee, Tee usw. werden von anderen bereitgestellt! Auch von nahen Kontakten sind wir abhängig. Wir werden krank, wenn wir isoliert werden. Und so kann man noch zahlreiche weitere Abhängigkeiten finden. Aus meiner Sicht kann man nur die Kunst der Abhängigkeit erlernen und gut damit umgehen, dass man auf andere angewiesen ist.
Vernachlässigte Bedürfnisse führen zur Angst vor Abhängigkeit
Wenn meine psychotherapeutischen KlientInnen die Angst vor der Abhängigkeit von mir und unseren Treffen formulieren, dann handelt es sich meistens um Menschen, die in der Erziehung stark auf Selbständigkeit hin erzogen wurden. Oft kann ich herausfinden, dass es sich sogar eher um eine Art der Vernachlässigung durch die Bezugspersonen handelte. Jemand musste z.B. früh in Fremdbetreuung gehen. Oder die Eltern waren kaum noch verfügbar, weil sie sich um jüngere Geschwister kümmerten.
In der Psychotherapie kann es zum Kontakt mit dem Schmerz kommen, der aus einer solchen Erfahrung resultiert: ein Zu-Kurz-Gekommen-Sein, eine Vernachlässigung führt zu einer Traurigkeit, einer Verlustempfindung.
Davor schrecken die Patienten zurück. Niemand will einen Schmerz spüren. Ein Teil der Therapie ist der Prozess, Wunden mit ihren Schmerzen so da sein zu lassen, wie sie sind. Dann heilt die Wunde. Die Wunde, die nicht beachtet wird, führt bekannterweise zu Komplikationen. Die Lösung ist also eher, sie zu sehen und wenn nötig zu pflegen.
Pseudoautonomie: leugnen, angewiesen zu sein
Der Schmerz, der durch Abhängigkeit entsteht, führt zu einer Struktur, die auch Pseudoautonomie genannt wird. In der Pseudoautonomie wird das Angewiesensein geleugnet und der Schmerz, der durch mögliche Zurückweisung oder Frustration entstehen kann, damit in Schach gehalten. „Ich brauche Dich nicht und auch sonst nichts, also kann mir auch nichts weh tun, besonders nicht, weil ich dann ja nichts vermisse!“
Autonomie grenzt sich in meiner Definition von Pseudoautonomie dadurch ab, dass man sich in der Kunst der Abhängigkeit übt. In der Autonomie kann man z.B. einen Verlustschmerz spüren, ohne ihn abwehren zu müssen. Der Verlust führt andererseits auch nicht dazu, dass man handlungsunfähig wird bzw. die Handlungsfähigkeit und Lebendigkeit wieder gewinnt und so den Verlust integriert.
Auch PsychotherapeutInnen können Angst haben, dass PatientInnen von ihnen abhängig werden. Dies ist ganz schön ungünstig, wenn es sich um „unterbeelterte“ PatientInnen handelt. Beide nämlich – Therapeut und Patient – umschiffen dann Bedürfnisse nach Abhängigkeit und die Erforschung von bestimmten Kontaktqualitäten in der Psychotherapie: vor allem Nähe, Sympathie, Liebe. So sollen natürlich die Ängste vermieden werden, die mit Hilflosigkeit, Verlassenheit oder auch Sehnsüchten verbunden sein könnten. So kann es dann passieren, dass mit sehr rationalen Argumenten die Pseudoautonomie gepflegt wird, und die eigentliche Heilung verfehlt wird, die im zugewandten Kontakt mit dem überforderten jüngeren Selbst bestehen könnte.
Besser ist, wenn im Therapiegespräch der Psychotherapeut keine Angst vor Gefühlen hat
Aus meiner Sicht ist es notwendig, dass sich Psychotherapeuten dieser Angst bewusst werden. Und letztlich mutiger handeln.
Denn wenn ich etwas gelernt habe, dann das: es ist ungünstig, wenn beide Beteiligten in der Psychotherapie – Patient und Psychotherapeut – Angst vor dem gleichen (z.B. vor Abhängigkeit) haben und es deswegen vermeiden. Dies ist natürlich einer der vielen Gründe dafür, warum nicht das Erlernen der Techniken, sondern die Erforschung des eigenen Seelenraums das wichtigste Pfund auf der Waagschale des Psychotherapeuten ist.