Was passiert in einer Gruppe, wenn wir in einem psychotherapeutischen Rahmen zusammentreffen, aber nicht miteinander sprechen? Was erlebt ein Teilnehmer?
Begegnung und Kontakt sind sehr zentrale Bedürfnisse eines Menschen. Werden sie nicht erfüllt, sterben wir, oder werden sehr krank. Ich habe Erfahrungsberichte von Gefangenen des IS gelesen, in denen sie ihre Isolationshaft als die schlimmste Folter beschreiben.
Körperkontakt und Sprechen
Normalerweise gehen wir diesem Bedürfnis nach, indem wir Körperkontakt herstellen und miteinander sprechen. Es ist banal, festzustellen, dass die Qualitäten von solchen Begegnungen sehr unterschiedlich sein können. Selbst intimes körperliches Aufeinandertreffen z.B. in der Sexualität kann sich als ein lediglich müder Abklatsch einer Begegnung entpuppen und sehr unbefriedigend bleiben. Andererseits kann ein offenes Gespräch so viel Begegnungsqualität haben, dass es uns über Wochen erfüllt.
Experimente im sprachfreien Raum
In den letzten 25 Jahren habe ich wiederholt Experimente in Gruppen gemacht, in denen nicht gesprochen wurde, aber dennoch das Augenmerk auf Begegnungen und gemeinsames Tun gelegt wurde. Manche solcher Gruppenereignisse dauerten eine Woche. Meine eigenen Veranstaltungen beschränken sich auf einen Tag.
Sich mit Sprechen verstecken
Es ergibt sich eine grundsätzliche Erfahrung für mich: Sprache wird im Alltag eher dazu gebraucht, sich zu verstecken als sich zu zeigen, und Sprechen führt nur selten zu tiefen Begegnungen. Wir bleiben sozusagen im Small-Talk stecken. Aber sogar, wenn wir Deep-Talk praktizieren, vermeiden wir es, mit unseren Gefühlen oder Kerngefühlen gesehen zu werden. Wir vermeiden es, berührt zu werden.
Berührung in vielen Ausdrücksmöglichkeiten
Berührung nun ist genau das, was passiert, wenn wir in einem Workshop auf Sprache verzichten. Wenn man sich nicht erklären kann, und sich deswegen auch nicht erklären muss, entsteht ein Raum, in dem das unmittelbare Sein hervortritt. Oder zumindest hervortreten kann, denn die Versteckmöglichkeiten vor sich und anderen sind immer gegeben. Aber der Daseins-Raum entsteht meiner Erfahrung nach recht zuverlässig. Menschen sind miteinander da, sehen sich an oder berühren sich körperlich, und alle möglichen Seinszustände werden unmittelbar fassbar. Es entsteht eine Berührung, die keiner herstellt, in einer Begegnung, die unmittelbar ist. Wir bekommen eine Wahrnehmung für unsere Gefühle, die in uns schlummerten oder genau jetzt entstehen. Sehnsüchte werden genauso von uns entdeckt wie ihre Erfüllung in der Begegnung. Oft erleben wir einen Rausch von Gefühlen, in denen Schmerz und Freude und Traurigkeit und Liebe sprudeln und die Angst davor schwindet. Ich habe mit Leuten getanzt, gesungen, geweint, gelacht, gekämpft, in Stille gesessen und den Raum weit werden lassen. Und in allem sind wir uns in der Tiefe begegnet und haben uns daran gefreut.
Neulich bekam ich die Rückmeldung, dass es sich anfühlt wie die komplette Ausschüttung allen Serotonins aus allen Speichern. Ob da jemand Erfahrung mit Ecstasy hatte und das verglich? Jedenfalls ist die Berührungsqualität sehr unmittelbar. Poetisch ausgedrückt weitet sich das Herz, aber manchmal wird es auch körperlich genau so gefühlt: ein großes, offenes Herz in der Brust. Dies ist meiner Erfahrung nach ein Seinszustand, der nicht in einem Kater enden muss, sondern in den Alltag, in viele ganz gewöhnliche Begegnungen einfließen kann. Manchmal braucht es ein Gipfelerlebnis, um wieder zu wissen, wie es sein kann. Wie man sich selbst in Begegnungen fühlen kann. Das kann ich sogar üben oder praktizieren, davon bin ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen überzeugt. Und je länger ich praktiziere, desto weniger Sehnsucht (Kater) gibt es nach solchen Workshops oder erfüllenden Begegnungen.
Sich fühlen bedeutet Heilung
Eine weitere interessante Erfahrung ist in diesem Erfahrungsraum möglich: Wir können unmittelbar empathisch mitfühlen, was beim anderen ist. Eigentlich erleben wir es in uns selbst. Im Nu sind wir nicht mehr getrennt, sondern ein einziges geworden. Alles was ich dort im anderen sehe, erkenne ich in mir. Es ist wie eine Verschmelzung. Eine Verschmelzung, die aber die Bewusstheit des Individuums erhält.
Meist weiß ich – woher auch immer – dass ich jetzt zwar das gleiche spüre wie das Gegenüber, aber es nicht in mir seinen Anfang genommen hat, sondern sozusagen eine Spiegelung ist. Und ich kann es von dem unterscheiden, was ursprünglich aus mir kommt. Es entsteht gleichzeitig eine Einheit von Ich und Du, die sich schlecht beschreiben lässt, aber ein Aufgehobensein und Angekommensein mit sich bringt.
Dies scheint mir dann das Wirksame in solchen Zusammenkünften zu sein: Wir kommen in der Begegnung mit dem anderen bei uns selbst an und fühlen uns in allem, und damit eben auch in uns selbst, aufgehoben. Das bedeutet Heilung. Das ist für mich Psychotherapie – in der Gruppe oder im Zweiergespräch.
Sprechen mit Begegnung
Was hat jetzt die Sprache damit zu tun? Mit Worten versuchen wir zwar, uns auszudrücken, wenn das überhaupt unser Anliegen ist (meist ist es ja das Verstecken, Vormachen, sich-gut-darstellen um gut da zu stehen), aber die Sprache steht dann dazwischen, zwischen dem Ich und dem Du. Manchmal gelingt es nach einem solchen Workshop, und das ist eine schöne Folge einer solchen sprachfreien Begegnung, auch mit Sprache so umzugehen, dass sie zum Werkzeug und Medium einer Begegnung wird. Das führt zu behutsamem und achtsamem Sprechen (was nicht bedeutet, dass es leise oder humorlos ist!) miteinander und berührt alle Teilhabenden.
Die Ausschreibung eines Workshops, in dem wir diesen Raum ausloten, kannst Du hier nachlesen.