Geborgenheit entsteht durch selbstverantwortliches Bewegen in einer Umgebung, die nie gleich bleibt
„Mir fehlt es an Geborgenheit“
Neulich ging es in einem Gespräch über Geborgenheit. Das ist ein interessantes Thema. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir zu diesem Punkt gelangt sind. Meist aber, wenn Geborgenheit Thema wird, beklagen sich die Leute über fehlende Geborgenheit. „Niemand kümmert sich um mich.“ „Mir fehlt es an Geborgenheit im Leben.“ usw.
Wie entsteht denn Geborgenheit? Wir könnten uns eine Kerze anzünden, eine Tasse Tee neben uns stellen, uns in eine Decke kuscheln und an den Kamin setzen: „Ah, das ist jetzt richtig geborgen!“ Oder noch besser: jemand, den wir gerade mögen, ist noch da und legt den Arm um uns. „Ah, super geborgen!“
Nichts bleibt wie es war
Jetzt ist alles gut, oder? Aber halt, wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, in dem Fall die Zeit! Wenn ich mich in eine noch so geborgene Haltung eingekuschelt habe: nach 30 min ist es nicht mehr geborgen. Oder vielleicht schon nach 20 min. Meist nach 10 min. Es beginnt zu warm zu werden, das Bein schläft ein, die Tasse Tee wird kalt, die Kerze qualmt, der Kamin geht aus …. also eine ganz alltägliche, praktische Erfahrung in Sachen „Alles fließt“ (πάντα ῥεῖ, Heraklit), nichts bleibt, wie es war, und niemand steigt zweimal in den gleichen Fluss.
Die Geborgenheit ist dahin – und wer hat daran „Schuld“? Es ist schon klar geworden, dass Geborgenheit nichts festes ist, nicht statisch sein kann. Wenn sich die Geborgenheit, in der wir uns so gut eingerichtet haben, verändert, dann liegt es quasi genau an diesem „sich einrichten“, dass sie verloren geht.
Sich mit dem Fluss der Dinge bewegen
Also was tun? Wir bewegen uns! Wir ändern etwas. Wir gestalten die Situation neu. Dann kann wieder Geborgenheit entstehen. Nur dann. Wenn mir der eingeschlafene Fuss nicht mehr geborgen genug erscheint: Aufstehen, umherlaufen, neu platzieren oder etwas anderes tun. Wenn mir das Gespräch nicht mehr gut tut: Beenden, Themen wechseln, Pausen machen, etwas essen. Wenn mit die Umarmung zu lange geht: Sich lösen, eine neue Position finden, einen anderen Menschen aufsuchen, sich am Alleinsein freuen. Die Grundlage für diese Prozesse sind die Wahrnehmungen und Gefühle, die uns notwendige Informationen über die augenblickliche Lage und Verfassung geben.
„Mach, dass ich mich geborgen fühle!“
In Beziehungen oder in der Psychotherapie – und das kommt echt häufig vor – könnte jemand explizit aussprechen: „Ich habe Dich dazu auserkoren, mir Geborgenheit zu geben, jetzt tu es auch! Sonst bist Du schuld, wenn es mir nicht so gut geht.“ Anders ausgedrückt: Statt dass ich mich bewege, musst Du es für mich richten. Ich kann dann passiv bleiben.
Schon alles klar, oder? Es geht mal wieder um Selbstverantwortung. Jemanden anderen dazu zu verpflichten, sich um mein eigenes sogenannte innere Kind zu kümmern, es ihr quasi auf den Schoß zu setzen, damit sie sich darum kümmert, kann nicht funktionieren. Sogar dann nicht, wenn es ein Geschäft auf Gegenseitigkeit ist: Du nimmst mein Kind in Obhut, und dafür sorge ich für Deines! Na ja, es scheint eine Zeitlang zu funktionieren, dann aber kommt der Knatsch so sicher wie das Amen in der Kirche. Dieses gegenseitige Abgeben der Verantwortung muss notwendigerweise in Enttäuschung, Vorwürfen, Wut und Traurigkeit enden.
Selbstverantwortung: Ich kümmere mich um mein inneres Kind …
Selbstverantwortung heißt dann: Ich nehme mich wahr und kümmere mich um mich. Ich sorge selbst für mein inneres Kind.
… und muss dafür nicht alleine bleiben
Das bedeutet nicht, nie irgendeinen anderen Menschen zu brauchen. Menschen sind soziale Wesen, und aufgrund unserer Natur brauchen wir andere Menschen. Eine totale Unabhängigkeit, eine Autarkie in diesem Sinne, können wir nicht leben. Sich aber autonom und selbstständig um sich selbst zu kümmern und für das eigene innere Kind zu sorgen, bedeutet dem inneren Kind zu sagen: „Du bist gerade etwas alleine. Hm, das ist schade. Aber weißt Du, ich kenne da jemanden, einen Freund, den werden wir anrufen. Wir fragen ihn, ob Zeit hat, etwas mit uns zu unternehmen. Und wenn nicht, dann fragen wir bei dem anderen nach. Wir werden jemanden finden, der Lust hat, Zeit mit uns zu verbringen.“ Das ist die Selbständigkeit, die wir lernen, wenn wir erwachsen werden. Die meisten von uns lernen ein ganzes Leben, erwachsen zu werden.