Kann ich noch guten Gewissens empfehlen, sich Ziele zu setzen? Oder soll ich dazu raten, „nichts zu machen und nichts weg zu machen“?
Vor gut 25 Jahren wurde mir in einem Seminar von einer amerikanischen Untersuchung berichtet. In dieser Studie habe man festgestellt, dass Menschen, die sich schon nach dem Schulabschluss für ihr Leben Ziele gesetzt hätten, später zufriedener seien und mehr Geld verdienten. Wenn das kein Ansporn war, sich Ziele zu setzen! Interessanterweise ging es in dem Seminar aber gar nicht so sehr darum, sich ein Ziel zu setzen, sondern eher darum, zu entdecken, wohin es einen zieht, was vermutlich wieder etwas anderes ist.
Inzwischen ist das „Ziele setzen“ zu einer Menschensteuerungstechnik in Unternehmen geworden. Es gibt Zielvereinbarungen mit Parametern, an denen die Zielerreichung gemessen wird. Menschen werden hier maschinisiert, eben wie Maschinen behandelt, die konstruiert und programmiert werden können, um einem bestimmten Zweck zu dienen. In dem Film „Zeit der Kannibalen“ (Johannes Naber, 2014) wird ironisch von „first class human ressources“ gesprochen. Menschen sind ähnlich wie Bodenschätze auszubeuten, und können nach Gebrauch entsorgt und durch frische Ressourcen ersetzt werden. Die Abteilung, die das organisiert, heißt dann „HR (Human Ressources)“. Unverblümt wird auch von „Human Capital“ gesprochen, und schon ist der Mensch auch monetisiert.
Immer häufiger fällt mir auf, dass Menschen sich unter Druck bringen, indem sie sich selbst Ziele setzen. Die Selbstoptimierung grassiert allenthalben. Vielen Managern, die mich wegen Stresssymptome (Ängste, Psychosomatische Beschwerden, später auch Depressionen) aufsuchen, erkläre ich, dass sie beim Sport die Uhren, die Pulsmesser und die Streckenmessungen weg lassen sollen. Das Messen, Vergleichen und Verbessern eigener Leistungen führt sonst dazu, dass Ruhe- und Regenerationszonen zu einer weiteren Wettbewerbssituation gemacht werden, und der Organismus reagiert mit dem, was wir Stress nennen.
Auch andere Ziele („ich muss/möchte unbedingt mein Selbstwertgefühl steigern“, „ich muss/möchte einen Partner finden“) tragen das Potenzial einer inneren Anspannung in sich, und oft entpuppt sich, dass dann das Ziel im Weg ist. Gerade wegen dieser Wünsche und Ziele entsteht so viel Verkrampfung, dass es nicht gelingt, was man sich so wünscht. Wenn man dann noch mit mehr Anstrengung reagiert, um doch zu erreichen, was man sich wünscht, kommt es zu dem Problem, von dem Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit der selben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Ich liebe das Wu-Wei-Prinzip des Taoismus. Für meinen Hausgebrauch übersetze ich „Wu-Wei“ (eigentlich „Nicht-Handeln“) mit „nichts machen und nichts weg machen“. In verschiedenen Experimenten und Übungen, besonders in Gruppen, fordere ich Patienten auf, mit diesem Prinzip zu spielen, es auszuprobieren: Impulse zu fühlen, ihnen nach zu gehen, sie nicht zu unterdrücken, also nichts weg zu machen, aber sich auch nichts auszudenken und zu produzieren, also nichts zu machen, nicht zum Macher zu werden. Diese Sitzungen sind dann erfüllt von Begegnungen und gutem Kontakt- mit sich selbst und den anderen. Es ergeben sich oft überraschende Erfahrungen und eine Selbstempfindung, die sich sicher und geborgen anfühlt.
Dieses Prinzip ist eine Lebenshaltung, die ich der Zielerreichung entgegengesetzt sehe. Dabei wird dennoch viel getan! Das kann man ausprobieren, z.B. feiertags in der Familie: Ich muss das Essen nicht kochen, aber wenn ich den Impuls verspüre, tue ich es, und lade eventuell jemanden mit dazu ein, mit zu machen. Es fühlt sich innengeführt an. Das Leben entfaltet sich und Zufriedenheit entsteht.
Dann ist der Weg das Ziel oder noch besser: Der Weg ist der Weg.