Was meint Autonomie und Unabhängigkeit als persönliches Entwicklungsziel?
„Ich muss unabhängiger werden!“
Wie oft höre ich diesen Satz! Es hat sich offensichtlich bis in die letzten Zellen unseres Gehirns herumgesprochen, dass Autonomie das Ziel der Entwicklung von Menschen ist. Kinder werden mit zunehmendem Alter immer autonomer. Sie nabeln sich ab, entscheiden selbst und leben ihr Leben. Erwachsene, die abhängig wirken, werden mitleidig oder fast schon verächtlich betrachtet: „Du bist ja (von Deinem Partner) abhängig!“
Die Vorstellung von Autonomie umfasst dann meist eine abstrakte Form von „völliger Unabhängigkeit“, „emotionaler Unabhängigkeit“ und „Selbstbestimmung“. Kann das bedeuten, sich von den Gefühlen des anderen nicht anrühren zu lassen? Sollen wir ohne Rücksicht auf Verluste, d.h. Konsequenzen und Auswirkungen, unser Ding durchziehen? Nein, das wollen die meisten dann auch nicht.
Mir gefällt der Ausdruck „Die Kunst der Abhängigkeit„. (Ich erinnere mich schwach daran, dass das die Überschrift eines Fachartikels gewesen sein mag, den ich vor vielen Jahren in die Finger bekommen habe.)
Vollständige Autonomie, völlige Selbstbestimmung, muss ganz offensichtlich eine Illusion bleiben – es gibt sie nicht. Niemand kann autark, ohne die Mitwirkung anderer, existieren. Niemand kann sich völlig auf sich gestellt seine eigenen Regeln geben ohne den Kontext der anderen Menschen zu berücksichtigen. Noch bevor der Tag 15 min alt ist, ist man schon abhängig von Tausenden von Menschen, die für den Strom, das Wasser, den Kaffee sorgen, mit dem wir den Tag beginnen.
Dann pflegen wir doch lieber die Kunst der Abhängigkeit. Als soziales Wesen bin ich auf andere angewiesen (Angewiesensein ist ein Gefühl, das so viele Menschen, mit denen ich in Kontakt komme, als sehr unangenehm ablehnen, dass ich manchmal richtig dafür werbe, dieses Gefühl zu erforschen. Nicht jedes Angewiesensein geht mit dieser verzweifelten Hilflosigkeit und Unterlegenheit einher, die so schmerzhaft ist. Und manchmal ist es erforderlich oder hilfreich, sich dem Angewiesensein hinzugeben, um zu erfahren, dass dahinter dann eine Friedlichkeit, eine Entspannung, entstehen kann. Ich kenne das z.B. von einem Krankenhausaufenthalt.)
Es könnte also darum gehen, mir die Menschen, mit denen ich mich in einem – vielleicht auch gegenseitigen – Abhängigkeitsverhältnis befinde, gut auszusuchen: Freunde oder Partner z.B.
Die Unabhängigkeit und Freiheit kann dann darin bestehen, für schöne und heilsame Formen von Abhängigkeit einzutreten oder einzuladen. Oder auch Veränderungen anzustreben, wenn der Zustand (des Lebens, des Zusammenseins, der Partnerschaft, der Arbeit etc.) einfach nicht mehr zuträglich ist.
Man könnte die schmerzhaft empfundene Abhängigkeit als eine Schwierigkeit verstehen, sich mit den Umständen oder Begegnungen im Tanz zu befinden, in dem man sich immer wieder neu positioniert. Dazu passt, dass sich viele Menschen, die sich über ihre Abhängigkeit beschweren, auch ihre Umstände beklagen, also darüber jammern, dass sich das Leben ihnen gegenüber so mies verhält.
Abhängigkeit ist dann die eigene Bewegungslosigkeit, eine schmerzhafte Starrheit.
Unabhängigkeit (Autonomie) ist dann ein flexibler, lebendiger Umgang mit dem Leben, sogar mit Abhängigkeiten. (Ein wenig paradox, nicht wahr?)
Psychotherapie verstehe ich als ein Forschungsvorhaben, wie ich mit dem Leben lebendig sein kann, wenn ich mich starr und festgefahren fühle in meinem Sein und den Umständen.
Psychotherapie ist ein Erforschen und Ausprobieren der Kunst der Abhängigkeit.