Nicht nur die Reichen und Schönen wollen sehen und – mehr noch – gesehen werden. Es ist ein grundsätzliches Bedürfnis von Menschen, in ihrem Wesen (und nicht nur in ihrem Äußeren) gesehen und erkannt zu werden.
Sehen und gesehen werden: wenn jemand in seinem Wesen gesehen wird, ist dies sehr machtvoll. Es kommt zu einer starken Hinwendung, einer Verbindung. Manche verlieben sich dann adhoc. Oder fühlen einfach Liebe. Oder werden berührt, sogar stark erschüttert, und sind dankbar dafür. Es breitet sich eine Milde und Wärme aus, die auch das Gegenüber oder andere im Raum erfasst.
Das, was gesehen wird, kann eine Wesenseigenschaft sein, eine Haltung, auch ein Schmerz oder Leid. Wenn es sich um wunde Punkte handelt, erlebe ich es oft, dass zunächst eine Mauer um diese Stellen gezogen wird, damit sie möglichst nicht erkannt und berührt werden können. Sobald es aber gelingt, dass die weiche Stelle berührt wird, weil eine Öffnung statt gefunden hat und eine Bereitschaft gewachsen ist, diese Stelle zu zeigen, strömt Dankbarkeit, dass auch dieser Punkt gesehen wird. Gesehen, nicht verurteilt und bewertet!
Wie beziehungsförderlich und heilsam sich das Gesehen werden auswirkt, konnten wir neulich in einer Gruppensitzung beobachten. Ein Mann, der in einem sehr schmerzhaften Zerwürfnis mit der Mutter seines Kindes feststeckt, bemerkte in einer Übung, dass die Ex-Partnerin nur auf Anerkennung, auf Gesehen werden, positiv reagiert. In dieser Übung hatte er sich intensiv in die Frau hinein versetzt – etwas, was er normalerweise in der Auseinandersetzung vermeiden würde. Dabei stellte er fest, dass er zwar nun weiß, was die Ex-Partnerin braucht, und was vielleicht das Verhältnis zwischen ihnen verbessern könnte. Aber er sah sich beim besten Willen nicht in der Lage, das auch zu praktizieren: „Lieber kotze ich!“
Wir haben dann eine Übung angeschlossen. In einem Rollenspiel stellten wir dem Mann eine Frau gegenüber, die er stellvertretend als die Mutter seines Sohnes ansehen sollte. Dann könnte er ausprobieren, wann und wie er diesem Gegenüber Sätze sagen könnte, die mit Sehen und Anerkennung (ihrer Art, ihrer Leistung, ihrer mütterlichen Fürsorge für das gemeinsame Kind) zu tun haben. Wie erwartet gelang das nicht (der Kotzeimer blieb aber leer….).
Als nächstes hat die Gruppe dann dem Mann ganz viele Dinge gesagt, die wir an ihm sahen: Liebe, Geduld, Schmerz, Fürsorge, Vaterengagement und sehr viel mehr. Von Runde zu Runde (wir überprüften immer wieder dar Ergebnis: „Willst Du noch kotzen?“) wurde der Mann weicher und versöhnlicher, die ganze Gruppe wurde versöhnlicher und weicher. Die Fronten zwischen Männern und Frauen, die sich bei solchen Themen meist aufbauen, weil jeder einzelne Erfahrungen mit Streit mit einem Partner oder einer Partnerin kennt und von Ungerechtigkeiten zu berichten weiß, dann generalisiert („die Frauen, die Männer“) und sich solidarisiert („wir Frauen, wir Männer“) – ein Artikel dazu hier – schmolzen dahin. Es breitete sich eine schöne Atmosphäre von Verbindung zwischen allen Teilnehmern aus, die auch die mit einschloss, die sich anfangs sehr schwer taten.
Gesehen werden ist heilsam.
Gesehen werden hat nichts mit bewerten zu tun. Loben – eine Bewertung, die immer auch die Seite der Kritik mit einschließt – ist fast schon das Gegenteil von sehen in diesem Sinne!
Sehen heißt: „Es ist so. Ich sehe, dass es so ist.“
Sehen bedeutet und stärkt Verbindung.
Wenn man gesehen werden will, lädt man am besten durch Sehen ein.