Freundschaft und Augenhöhe in der Therapie

Kann die Beziehung zwischen einem Patienten und einem Therapeuten als Freundschaft gesehen werden? Ist die therapeutische Beziehung ein Kontakt auf Augenhöhe?

Seit es eine professionalisierte Psychotherapie gibt, also mindestens seit der Entwicklung der „Redekur“ durch Sigmund Freud, wird über die Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung nachgedacht. Über die Jahre gab es dabei einen bedeutsamen Wandel.

Die Abstinenzregel

Sigmund Freud hatte wegen seiner besonderen Behandlungsmethode die Idee, der Therapeut müsse eine Projektionsfläche sein. Er muss quasi als eine unberührte Weise Wand dienen, auf die der Patient seine Beziehungen und Gefühle projizieren könnte. Er selbst solle davon unberührt sein. Der Therapeut muss sich deswegen aller persönlicher Regungen und Einwendungen enthalten, also abstinent bleiben. Er soll seine Emotionen nicht zeigen, keine privaten Informationen teilen und er darf keine persönliche Beziehung eingehen.

Das konnte Freud natürlich weder selbst durchhalten noch entspricht diese Idee auch nur im Ansatz den fundamentalen Bedingungen menschlicher Beziehungen.

Die menschliche Beziehung

In einer menschlichen Beziehung sind beide (oder mehr) Menschen vorhanden und beteiligt. In diesen Beziehungen kann es keine lediglich einseitigen Beeinflussungen geben. Der Patient beeinflusst den Therapeuten und der Therapeut beeinflusst den Patienten. Es kann vielleicht unterschiedliche Kompetenzen in der Bewusstheit dieser Prozesse geben, aber die Prozesse selbst können dadurch nicht verhindert werden.

Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass es keine isolierten Prozesse auf der einen oder anderen Seite gibt. Im wesentlichen gibt es ganz genau einen einzigen Prozess in dieser Begegnung. Eine Trennung in einen Prozess, den lediglich der Patient durchmachen soll, und einen davon wie auch immer abgegrenzten Prozess beim Therapeuten, ausgedrückt durch seine professioneller Haltung, ist ein ziemlich hilfloses und absurdes Konstrukt. Wenn ich mit einem Patienten spreche oder etwas gemeinsam erforsche, handelt es sich immer um einen gemeinsamen Erkenntnisprozess, bei dem auch ich mich verändere und Neues erkenne. Meine inneren Bewegungen sind nicht von der inneren Bewegungen des Patienten zu trennen. Das eine existiert nicht ohne das andere. Jede Kommunikation ist ein systemischer Prozess.

Der Therapieprozess

Therapie, so wie ich sie sehe, ist also ein gemeinsamer untrennbarer Prozess. Wir schaffen einen gemeinsamen Forschungsraum, um die Fragen, die Muster, die neuen Perspektiven etc., die uns beide interessieren, zu untersuchen.

Wenn ich mich nicht für diese Fragen interessiere, wie sollte ich dann zu einem Gelingen des Gesprächs beitragen können? Wollten Sie mit einem Therapeuten arbeiten, der keine Freude an seinem Tun hat, oder gar sein Tun als sinn- und wertlos erlebt? Wenn sich der Patient nicht für diese Fragen interessiert, wie sollte er dann den Forschungsraum gestalten und nutzen können?

Die gemeinsame Arbeit muss also der Befriedigung der Bedürfnisse und Interessen beider dienen, damit sie gelingen kann.

Die therapeutischen Beziehung als Freundschaft?

Ist die therapeutische Beziehung dann nicht eher so etwas wie eine Freundschaft? Vielleicht wie eine ad-hoc Freundschaft, eine spontane, sehr intime und von den Temperamenten der Teilhabenden bestimmte nahe Beziehung?

Harry Stack Sullivan (Bedeutender Vertreter der interpersonellen Psychoanalyse) zum Beispiel meinte, der Therapeut sei ein teilnehmende Beobachter und die therapeutische Situation ein Gespräch unter Freunden.

Auch Irvin Yalom (bedeutendster Vertreter der existentiellen Psychotherapie) sprach davon, dass die therapeutische Situation eine zutiefst menschliche Begegnung ist. Der Therapeut ist der Freund und muss der Freund des Patienten sein, damit eine Therapie gelingt. Für Yalom ist der Therapeut kein distanzierter Experte, sondern ein persönlich anwesender und empathisch mitfühlender Mitmensch, der authentisch sein muss, soll der Prozess der gemeinsamen Forschung gelingen. Ein wesentlicher Unterschied zu einem Alltagsgespräch unter Freunden ist dann lediglich der Umstand, dass über die Gesprächsteilnehmer und den gemeinsamen Prozess sowie Gefühle und Gedanken reflektiert und nachgedacht wird. Wir sprechen ja nicht über Fußballergebnisse oder diskutieren eine physikalische Theorie.

Von Nossrat Peseschkian (Begründer der positiven Psychotherapie) ist bekannt, dass er an einer Geburtstagsfeier von einem Patienten, einem Richter, nicht nur anwesend war, sondern von dem Patienten auch als sein Psychiater oder Psychotherapeut vorgestellt wurde. Wegen seines interkulturellen Ansatzes, war ihm klar, dass die Nähe oder Distanzierung eines Therapeuten zum Klienten kulturell geprägt ist und kulturelle Bedeutung hat. Sie unterliegt damit auch Wandlungen und muss nach dem jeweiligen Hintergrund des Patienten angepasst werden.

Die Begegnung in Augenhöhe trotz der Kompetenzunterschiede

Es gibt Kompetenzunterschiede in der therapeutischen Beziehung. Die gibt es natürlich in jeder menschlichen Beziehung. Ich als Therapeut habe mich vermutlich in vielen Fällen intensiver als die Patienten mit bestimmten Fragen beschäftigt, mit Möglichkeiten, Dinge auszudrücken, mit der Beobachtung von Prozessen und so weiter. Dennoch kann ich eine Beziehung komplett in Augenhöhe, d.h. in vollen Respekt für die Einsichten und Erkenntnisse des Patienten führen. Die Augenhöhe ist auch nicht anders als zum Beispiel bei einem Gespräch mit einem Handwerker über die Reparatur meines Motorschadens. Es gibt zwar ein Kompetenzgefälle, aber kein Machtgefälle oder Selbstbestimmungsgefälle in der Therapie. Die freundschaftliche Beziehung der Therapie duldet kein Oben-Unten-Verhältnis.

Wie verhält es sich dann mit der professionellen Distanz?

Die sogenannte professionelle Distanz soll auf der Grundlage von ziemlich irrigen Vorstellungen über gelingende menschliche Kommunikation und Wirkungen von Psychotherapie auch noch einem Machtmissbrauch vorbeugen und den Therapeuten und den Patienten vor Verwicklungen schützen. Das erscheint ziemlich sinnvoll. Irvin Yalom hat das wunderschön in seinem Roman „Die rote Couch“ beschrieben. Was aber ist der beste Weg, sich nicht in mögliche Verstrickungen zu begeben?

Der Therapeut muss sich – und daran halte ich fest – an die geltenden Gesetze halten, und die untersagen ihm z.B. während und bis zu einem gewissen Zeitraum nach der Therapie eine Liebesbeziehung oder eine sexuelle Beziehung mit dem Patienten einzugehen. So soll der Patient vor der manipulativen Macht des Therapeuten geschützt werden, vor der sich der Patient vielleicht anders nicht schützen kann.

Das Gesetz behandelt den Patienten damit aber auch als einen Menschen, der wegen der Therapie nicht in der Lage ist, eigenständige, autonome und selbstfürsorgliche Entscheidungen zu treffen oder die Tragweite einer wie auch immer gearteten Beziehung zum Therapeuten zu erkennen – nicht in der Therapie, aber jederzeit in allen anderen Beziehungen? Das kann man vielleicht für eine absurde Idee halten? Oder was passiert, wenn man all die Therapeuten mit all ihrer angeblichen manipulativen Macht auf die allgemeine Menschheit loslässt, außerhalb des Therapieraums? Es bleiben Fragen offen…

Die Frage der Augenhöhe und die Betrachtung der Art der Beziehung, als Freundschaft oder als Machtbeziehung mit einem oben-unten-Verhältnis, hat also erhebliche Auswirkungen mit ganz unterschiedlichen Richtungen.

Aus meiner Sicht verlassen sich am besten der Therapeut und der Patient nach der Probesitzung auf ihre Intuition, ihr Bauchgefühl, ob es darum geht, tatsächlich miteinander zu arbeiten und zu forschen. Ob man das mit genau diesem Gegenüber will. Dann gelingt die Beziehung in der Therapie meist sehr gut. Und oft in Freundschaft.