Corona-Grau

Wie können wir in diesen Tagen zu unserem seelischen Wohlbefinden beitragen?

Zum dritten Mal nun erlebe ich eine zuvor nie verspürte kollektive seelische Veränderung, seit wir das Wort „Corona“ zum ersten Mal gehört haben.

Das Corona-Grau kommt in Wellen

Die erste signifikante Veränderung kam mit dem ersten Lockdown im März oder April. Meine Patienten waren mit einem Mal ängstlicher, auch depressiver und weniger geneigt, irgendwelche Sitzungen bei mir abzusagen. Nur einer kleinen Gruppe von Patienten, die Probleme mit sozialen Ängsten und mit milderen Formen von Autismus zu tun hatten, oder mit einem schizoiden Persönlichkeitsstil unterwegs sind, fühlten sich befreit, weil nun endlich einmal die Welt so funktionierte, wie sie es gut gebrauchen konnten. Die anderen baten mich um mehr Termine und doch so bald wir möglich auch mit der Gruppentherapie wieder anzufangen.

Die zweite spürbare Veränderung kam nach der Phase einer Sommerfrische im Oktober, als die kaum noch erwartete zweite Welle der Infektionen, die anfangs so theoretisch daher kam wie ein Tsunami am Ferienstrand, doch tatsächlich über uns hereinbrach. Wieder klagten die Menschen, die zu mir kommen, über mehr depressive Stimmung, vermehrte Ängste, Müdigkeit und Schlafstörungen.

Die dritte depressive Welle – ich nenne sie seit Wochen das „Corona-Grau“ – kam dann nach Weihnachten, ab etwa der 2. Woche des neuen Jahres. Jetzt erfasst sie auch viele Menschen, die sonst noch ganz gut da standen. Ich bemerke, wie viele sich sozial zurückziehen, und zwar über das Maß hinaus, das von der jeweiligen Verordnung angestrebt wird. Eine zähe unsichtbare Schicht hat sich um alles und jeden gelegt, die den Griff zum Telefon oder die Vereinbarung zu einem kleinen Treffen zu zweit im Freien beeinträchtigt und verzögert. Die Stimmung sinkt spürbar, lachen und freuen versiegen zusehends.

Jüngere leiden mehr als Ältere

Älteren Menschen geht es dabei noch relativ gut. Sie brauchen offensichtlich nicht so viel von dem, was den anderen fehlt. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leiden nach meinen Beobachtungen am stärksten. Das sind die, die sich an die Regeln halten, obwohl sie von Covid-19 weniger stark bedroht sind als von einer beliebigen saisonalen Grippe. Sie befolgen die Maßnahmen der sozialen Distanzierung für die Älteren, die Eltern und Großeltern und fernere andere.

Physische Distanzierung führt zu sozialer Distanzierung führt zu emotionaler Distanzierung

Anfangs dachte ich noch, physische Distanzierung entspräche ja nicht einer sozialen Distanzierung. Meine Beobachtungen belehren mich mittlerweile eines bessern. Fehlender naher Kontakt – Körperkontakt, Gesprächskontakt, Spielkontakte wie beim Tanzen und beim Sport – führt über kurz oder lang zu einer sozialen Distanzierung. Und dann sofort auch zu einer emotionalen Distanzierung. Und die zeigt dann bald auch die Ausprägung von Depressionen, mit Verlust an Freude, Antrieb und Interesse. Das passiert sogar wider besseren Wissens. Vielen sehen durchaus, dass sie sich doch über alle möglichen Medien mit anderen in Kontakt bringen könnten, um wenigstens ein wenig Ersatz zu bekommen. Und sie tun es weniger und wenige, weil sie müde geworden sind. Corona-müde. Oder corona-erschöpft.

Social Media – entpuppt sie sich als asozial?

Das finde ich faszinierend, denn offensichtlich haben es die elektronischen Medien nicht vermocht, uns vorzumachen, sie seien soziale Medien. Unsere Gefühle zeigen klar, dass die elektronischen Ersatzkontakte durchaus asoziale Medien sein können, eine kleine Ergänzung, die meist ohne echten Nährwert bleibt. Wir könnten gut ohne sie auskommen, und uns immer noch glücklich fühlen, aber wir können ohne echte körperliche Präsenz von anderen kaum zu unserem Glück finden. Wie oft sehe ich, dass jemand, der etwas auf Instagram entdeckt hat, es mit einer anderen Person live teilen mag, um gemeinsam darüber zu lachen.

Menschen sind Herdentiere – auch mit Neugier an Fremden

Offensichtlich sind wir Herdentiere. Von dieser Erkenntnis – nein, sie ist nicht neu… – berichten mir viele dieser Tage. Wir brauchen wohl die Nähe verschiedener nächster Menschen, um artgerecht zu leben. Es reicht aber auch nicht, sich auf die Familie zu zentrieren. Gut für den, der in einer Familie lebt, damit ist sicher schon ein Auffangnetz in Sachen Nähe und Kontakt gegeben – wenn die Familie diese Wärme denn abgibt. Wir brauchen so oder so darüber hinaus noch andere Menschen, Freunde und Fremde, um uns vielfältig zu verbinden, uns auf unterschiedliche Weise selbst zu erleben, unsere Neugier nach etwas Anderem und auch Unbekanntem zu stillen und soziale Anregungen zu erfahren, die nicht von vorne herein auszurechnen sind. Wir brauchen das Überraschungsmoment der anderen, die wir nicht oder nicht so gut kennen, so sehr wie wir auch Vertrauenspersonen brauchen. Das ist der Grund, warum wir in Kneipen oder Cafes gehen, warum die alten Griechen die Agora, den Marktplatz, besuchten, warum die Italiener zum Flanieren auf die örtliche Piazza gehen.

Anti-Serum gegen das emotionale Corona-Gift

Wie können wir aber jetzt mit den Bedingungen umgehen, die uns schon wegen der immer neuen Corona-Varianten, eines schlepppenden Impfbeginns und fehlender wirksamer spezifischer Anti-Corona-Medikamente noch viele Monate erhalten bleiben dürften?

Kontakte bleiben wichtig. Gegen das Gift des Corona-Graus sind sie das Anti-Serum schlechthin. Wir müssen weiter Menschen treffen. Vielleicht einzeln, vielleicht draußen, aber treffen müssen wir sie, um gesund zu bleiben. Zur artgerechten Haltung des Menschen gehört sicher auch Körperkontakt. Und Hautkontakt, wenn man das in Coronazeiten überhaupt noch schreiben darf. Aber auch eine „geschützte“ Umarmung mit Maske wäre möglich, und sie könnte (hat sich schon ein Forscher oder ein Ministerium um solch wichtige Fragen gekümmert?) weniger gefährlich sein als ein längeres Gespräch, in dem man sich frontal gegenüber steht. Wir könnten auch Blasen aufsuchen oder schaffen, die sich nur langsam mit anderen Blasen mischen. Allein, um das herauszufinden, braucht es schon eine Menge echter Worte und Gespräche, die uns wohl tun.

Kleine Aufgabe: Die 20 lebendigsten Situationen 2020

In einer Gruppe habe ich die Aufgabe gestellt, dass sich jeder die 20 Situationen in 2020 aufschreibt, in denen er oder sie sich am lebendigsten gefühlt hat. Wirklich 20 Situationen. Kurze Sekunden von Lebendigkeit oder lange Wochen, ganz egal. Dafür kann man sich Zeit lassen, einige Stunden, eine Woche, und dann mehr und mehr davon finden. Diese Landkarte der Lebendigkeit kann einen dann den Weg weisen, wenn man sich im Nebel des Corona-Graus depressiv verirrt hat.

Gesunde Routinen

Gesunde Routinen helfen sicher auch, so etwas wie regelmäßiges Schreiben oder Malen, körperliche Dehnungen oder Nachdenken beim Tee. Besonders schön aber könnte sein, mit anderen wirklich lustige oder kreative Ideen zu entwickeln, was man und wie man etwas gemeinsam machen könnte. So etwas wie ein gemeinsames Brainstorming, oder gar ein Moodboard erstellen. Und alle gesunden Routinen sind viel einfacher neu zu beginnen und durchzuhalte wenn man mit mindestens einem anderen Menschen abmacht, wann und wie und wo man diese Routinen in den Alltag einbaut. Die Laufgruppe mal anders.

Was ist eigentlich wirklich gerade schön in der coronageformten Welt?

Und dann wäre es noch sehr hilfreich und interessant, sich einmal das aufzuschreiben, was wir in den kommenden Jahren vermissen werden, wenn wir auf die Corona-Zeit zurückblicken. Wird uns der kondenstreifenfreie Himmel fehlen? Das fehlende Gedrängel im Supermarkt? Dass wir nicht mehr neidisch sind auf die noch tollere Urlaubsreise des Nachbarn? Und dass wir ohne Probleme Menschen, die wir nicht so mochten, sagen konnten, dass wir sie leider nicht treffen können? Auch hier wäre es von Vorteil, wenn diese Liste mehr als 20 Punkte aufwiese….. Viel Freude dabei!