Kann man bei einem so anpassungsfähigen Tier wie dem Menschen etwas zur artgerechten Haltung sagen?
Artgerecht
Bei einer artgerechten Haltung von Tieren können Tiere wachsen und gedeihen. Sie bleiben gesund und vermehren sich.
Artgerecht meint hier, dass wir Menschen auf die Tiere schauen, und glauben, etwas zu ihren Bedürfnissen und ihrem Verhalten zu wissen. Wir blicken mit menschlicher Intuition und Empathie auf die Tiere und erkennen so, was sie möglicherweise brauchen, bevorzugen oder ablehnen. Artgerecht ist eine menschliche Kategorie.
Deswegen sollte man diese Kategorie gut auf Menschen anwenden können: Schließlich wissen wir von uns selbst, was wir brauchen, wollen, bevorzugen oder ablehnen.
Artgerecht?
Tun wir das wirklich? Erkennen wir, was für uns artgerecht ist?
Ich habe da meine Zweifel. Der Mensch ist ein so anpassungsfähiges Tier, dass es zumindest schwer ist, generell etwas über artgerechte Haltung des Menschen auszusagen (Trotzdem versuche ich mich weiter unten an ein paar Beschreibungen). Wir passen auch unser Denken an, wenn die Umstände es verlangen. Dann können wir in Demokratien und Diktaturen, im Kapitalismus und Sozialismus, mit Umweltzerstörung und Kulturlandschaft leben.
Dafür gibt es viele Beispiele. So hat sich mit der Entwicklung der Landwirtschaft über mehrere tausend Jahre in der Altsteinzeit die Lebenserwartung des Menschen stark reduziert. Es kam zu mehr Krankheiten, zu veränderten sozialen Strukturen mit Machthierarchien, Bevölkerungswachstum und kriegerischen Auseinandersetzungen. War die Entwicklung der Landwirtschaft also gut und artgerecht?
Oder Suchtmittel: Wir haben die Alkoholherstellung entwickelt. Alkohol ist sehr beliebt, kommt aber mit einigen unangenehmen Folgen daher. Die Alkoholsucht kann ziemlich zerstörerisch sein. Oder die Smartphonesucht, die in meinen Gesprächen in den letzten Jahren eine immer größere Rolle spielt. Gehören Alkohol und Smartphone und unser Umgang damit, der für die meisten für unverzichtbar gehalten wird, also zur artgerechten Haltung?
Gesundes Leben
Im ersten Semester meines Medizinstudiums berichtete uns ein Professor für Medizinsoziologie von alten griechischen Vorstellungen von einem gesunden menschlichen Leben. Vielleicht waren das Texte aus der hippokratischen Schule. Seine Schilderungen jedenfalls haben mich nachhaltig beschäftigt. Der Professor fragte uns nach seiner Auflistung: „Wollen wir nicht alle am liebsten so leben?“ Ich habe sofort zugestimmt.
Ich habe nicht nachrecherchiert. In einer Kombination aus Erinnerung und eigenem Erfahrungswissen komme ich auf folgende Zusammenstellung.
Artgerechte Haltung des Menschen
Für die artgerechte Haltung des Menschen, also damit der Mensch wachsen und gedeihen kann, sich wohl fühlt und gesund bleibt, braucht es aus meiner Sicht
- Ausreichend Schlaf im Wechsel mit Wachsein
- sauberes Wasser und gesundes, leckeres und einfaches Essen, vielfältig, ohne Gifte
- angemessener Schutz vor den Umwelteinflüssen wie Kälte, Hitze, Wetter und unangenehmen Tieren (Läuse und Flöhe, Hyänen und Löwen), also Kleidung und Unterkunft
- Menschen, mit denen wir zusammen sein können, für gemeinsames Tun, Sprechen, Spielen, Freundschaften, Körperkontakt, Sex
- angemessene Arbeit, die weder überfordert noch langweilt, und die den eigenen Unterhalt sicher stellt, die frei ausgeübt werden kann (also nicht erzwungen durch Mächtigere)
- Ruhephasen und Erholung am Tag, also freie Zeit mit der Möglichkeit, sich nach eigenem Gusto zu verhalten, kreativ zu sein, alleine zu sein, zu musizieren, zu meditieren und so weiter
- Saubere Umwelt
- Möglichkeiten der Ekstase und der Verinnerlichung, sei es im Tanz, in Spiritualität, in spontanem Flow
- Bewegung
- gemeinsame Entscheidungen bei Belangen der Gemeinschaft
Noch kürzer hat es Burgs in einem Text ausgedrückt:
We need food, shelter and companionship – everything else is a bonus
Burgs
Neid und Gier
Ganz offensichtlich haben wir sehr viel mehr, als wir materiell brauchen und oft zu wenig von den essentiellen Dingen. Warum?
Das von uns Menschen entwickelte System, das sich weltweit durchgesetzt hat, beruht auf Gier und Angst (zu kurz zu kommen, Neid) – und die Resultate kann man betrachten. Die Wirtschaft beruht auf dem von allen Menschen leicht zu begreifenden kapitalistischen Prinzipien, dass Ressourcen knapp sind, man Bedürfnisse stillen will, und um reich zu werden es notwendig ist, anderen etwas zu verkaufen. Dazu weckt man am besten Bedürfnisse, die es vorher nicht gab. Und fügt eine große Menge Neid dazu, um die Menschen damit wie am Nasenring durch die Manege zu ziehen. Siehe unsere Werbung.
Am Ende sind wir weit weg von den Basisbedürfnissen Food, Shelter and Companionship.
Keine Moral, sondern Erkennen
Mir geht es hier nicht um Moral. Moral macht unfrei und ist auch nur ein Teil des automatisierten, also unbewussten Lebens. Mit Moral kann man nichts ändern. Moral führt zu Schuld und Scham und steht Veränderung im Weg.
Ich glaube einfach, dass es uns frei macht, wenn wir sehen, wie wir funktionieren.
Mir hilft es, Neid und Gier als Formen der Angst bei mir zu sehen. Dann kann ich wieder besser erkennen, worum es mir im Leben wirklich geht, und ob meine Basisbedürfnisse für ein gesundes Leben gedeckt sind.