Sind Diagnosen in der Psychotherapie – und auch in der Psychiatrie – wichtig? Sind sie hilfreich, hinderlich oder gar schädlich?
Viele Patienten wollen gerne wissen, wie ihre Diagnose lautet, wenn sie ein Problem entdeckt haben und damit zu mir kommen.
Die Kenntnis einer Diagnose hat wohl etwas von der Magie der alten Zeit: Wenn ich den Namen kenne, kann ich es bannen. (Wenn ich den Namen von Rumpelstilzchen ausspreche, zerreißt es sich in der Luft und verschwindet.) Wenn mir der Heiler erklärt, dass mein Problem die Wirkung eines Dämons ist, dann weiß er (hoffentlich) auch, was zu tun ist. Auch wenn nichts zu tun ist, geht es mir besser, wenn ich weiß, was ist.
In der Medizin gilt der Spruch: „Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt!“ Ohne Diagnose also keine Therapie. Und für viele Erkrankungen ist eine Diagnose auch ausgesprochen hilfreich und beinhaltet in einem Code jede Menge Informationen zur Herkunft, Prognose und Therapie einer Krankheit. Wenn ich sage: „Das Kind hat Masern“, dann kann sage ich gleichzeitig etwas aus über die Ursache (ein Virus), die Ansteckungsgefahr für Geschwister oder nicht immune Erwachsene, den zu erwartenden Verlauf (meist gutartig, aber einige sterben auch daran), die Therapie (Allgemeinmaßnahmen, da keine gute antivirale Therapie existiert) und die Wiederholungsgefahr (keine, da beim Überleben Immunität für den Rest des Lebens besteht).
In der Psychotherapie ist das (leider?) etwas anders, aber von Patienten und oft auch Ärzten werden meist die gewohnten medizinischen Ansichten in den psychotherapeutischen Kontext übertragen.
Überspitzt könnte man sagen: Diagnosen in der Psychotherapie nutzen lediglich den Forschern, denn sie können durch enge diagnostische Kriterien vermeintlich recht homogene Gruppen zusammenstellen, um dann – vor allem – Medikamente oder – seltener – andere Maßnahmen zu erproben und zu vergleichen.
Die Diagnose „Depression“ z.B. ist eigentlich die Beschreibung eines Syndroms, eines gemeinsamen Auftretens von verschiedenen Erscheinungsformen wie z.B. Lustlosigkeit, Energieverlust, Freudlosigkeit, Suizidalität, Antriebsverlust etc. Manchmal kommen Erscheinungen dazu, die den Haupterscheinungen widersprechen, denn eine Depression kann z.B. statt mit Antriebsverlust auch mit Unruhe einhergehen (dann kommt z.B. eine agitierte Depression dabei heraus).
Eine medizinische Diagnose ist das nicht, ebensowenig wie ein Laborwert, den man messen kann (z.B. wenig Eisen im Blut, bei Blutarmut im Labortest), eine Diagnose ist (Eisenmangelanämie), sondern nur ein Hinweis, nach Ursachen, nach einer tatsächlichen Diagnose zu suchen (z.B. ein Wurmbefall, ein Darmkrebs oder eine noch näher zu bestimmende entzündliche Darmerkrankung).
Auch die Medikamente, die üblicherweise bei Depressionen verordnet werden, helfen nicht nur bei Depressionen, sondern typischerweise auch bei Angststörungen. Das ist auch ein Hinweis, wie stark überlappend die verschiedenen Syndrome sind. Manche Medikamente, z.B. Quetiapin, habe ich tatsächlich schon bei jeder psychiatrischen Diagnose von A wie Alzheimerdemenz bis Z wie Zwangsstörung verordnet gesehen, auch bei Ängsten, Depressionen, Psychosen und Schlafstörungen (möglicherweise auch das Ergebnis der Umtriebigkeit und Marketingfähigkeiten der Pharmaindustrie, oder ein Hinweis auf die reichlich unspezifische Wirkungsweise: „irgendwie dämpfend“?).
Damit Krankenkassen die Therapie bezahlen, reicht ein Leiden nicht aus, sondern es muss sich um eine Diagnose handeln, also um eine „Krankheit im medizinischen Sinne“. Dabei kann, nein: muss der Kontext außer Acht gelassen werden. Ein schädliches Familiensystem darf z.B. nicht auf Kassenkosten behandelt werden, es muss ein kranker Patient behandelt werden, z.B. ein depressives Kind.
Dies ist natürlich unbefriedigend. Ich betone den Patienten gegenüber immer, dass ich keine Diagnosen behandle, sondern mit den Menschen zusammen arbeite, z.B. damit es ihnen besser geht – egal, wie die wissenschaftliche Diagnose lautet. Um das zu unterstreichen, erzähle ich manchmal, dass ich einen Lehrer hatte, der behauptete, die Diagnosen in Anwesenheit der Patienten auszuwürfeln, um völlig klar zu machen: „Die Diagnose ist nur für die Kasse, wir arbeiten hier unabhängig davon an Ihrem Wohlbefinden.“
Also: Diagnosen sind hilfreich, um die Therapie von der Kasse bezahlt zu bekommen. Man hat durch die Diagnose das subjektive Gefühl, den Zustand besser handhaben zu können. Diagnosen helfen vielleicht auch in der Verständigung zwischen Forschern oder Fachleuten. Dabei gaukeln Diagnosen aber eine Homogenität vor, die es gar nicht gibt, und führen so das Denken in die Irre – bei Laien und bei Fachleuten.
Aber: Diagnosen können auch schaden. Ich denke z.B. an die Folgen einer Stigmatisierung durch Diagnosen wie „Schizophrenie“ oder „Persönlichkeitsstörung“. Ich denke auch an die Einschränkung im Denken der Patienten, das durch eine Diagnose gebahnt wird. Z.B. können Verhaltensweisen als unveränderlich gelten, weil ja durch die Diagnose festgelegt. Zum Glück kann man aber im Gespräch diese Konzepte mit den Patienten besprechen und aufweichen, was meist recht hilfreich ist.
Und noch eine Hinweis auf eine Beobachtung: Die korrekte Diagnose wird bei egal welcher Psychotherapieforschung (ich habe da ein wenig herumgegoogelt) nicht als wesentlicher Wirkfaktor benannt!
Die Psychotherapie wirkt, ob ich das Syndrom eher als eine Angststörung, eher als eine Depression oder eher als eine Störung im Familiensystem bezeichne.