Eine nützliche Unterscheidung, wenn man sich traurig fühlt
Traurigkeit wegen Verlust
Die Traurigkeit wegen eines Verlustes kommt spontan und natürlich. Sie ist die andere Seite der Medaille, auf deren Kopfseite Liebe und Verbundenheit steht. Diese Traurigkeit ist geradezu der Beleg, dass wir zu Liebe und Verbundenheit fähig sind. Wir sind traurig, wenn sich diese Verbindung auflöst, z.B. durch Tod. Sie eine Art Trennungsschmerz. Sie kommt in Wellen, wenn der Verlust schwer wiegt, und hat oft eine Tendenz, sich von selbst wieder aufzulösen. Es ist gut, sie einfach zu spüren. Irgendwann ist sie vielleicht ganz vergangen, oder sie kann wieder und wieder erlebt werden, wenn die Gedanken an den Verlust auftauchen.
Sie unterscheidet sich von depressiven Gefühlen vor allem dadurch, dass sich hier kein Selbstwertverlust einstellt. Depressionen gehen immer mit einem Selbstwertproblem einher.
Traurigkeit wegen Abwertung
Wenn eine Traurigkeit auftaucht, die nicht direkt durch einen Verlust oder durch Mitgefühl erklärt werden kann, findet man in der Regel im inneren Dialog Sätze der Selbstabwertung.
Im Gespräch zeigt mein Gegenüber dann vielleicht Tränen oder einfach einen traurigen Gesichtsausdruck. Da ich ja in der Regel nicht genau weiß, was mein Gesprächspartner fühlt, frage ich nach dem inneren Zustand, der zu Tränen führt: Berührtsein? Traurigkeit? Wut? Wenn es sich um Traurigkeit handelt, kommen wir darüber ins Gespräch: „Wie kommt es jetzt zu Traurigkeit?“ Ich weise auf den inneren Dialog hin. Bei einem Gedanken an Verlust (wie dem Tod eines geliebten Menschen oder Tieres) sind wir einfach gemeinsam traurig. Viele erleben in solchen Situationen wie ich eine Mitgefühlstraurigkeit oder -berührung. Daran möchte ich nichts ändern.
Oft wird beim Lauschen auf den inneren Dialog aber auch klar, dass sich abwertende Stimmen zu Wort gemeldet haben. Das sind dann Sätze wie „Blöde Kuh, wie konntest Du nur so dämlich sein!“ und „Du Idiot, hast Du schon wieder den gleichen Mist gebaut!“ Jeder wird hier seine Varianten finden.
Diese Sätze sind nicht immer leicht zu entdecken. Sie scheinen zwar wirksam, aber doch irgendwie im Hintergrund zu ertönen. Oft sind sie jahrzehntelang eingeübte Muster, die so natürlich nach uns selbst klingen, dass wir sie so wenig spüren wie das Blut in unseren Adern. Aber sie sind bewusstseinsfähig und es reicht meist einfaches Nachdenken, manchmal mit etwas Anregung von mir.
Innere Sätze der Selbstabwertung aufdecken, um sie veränderbar zu machen
Wenn ich selbst traurig werde, und die Traurigkeit ist eben nicht auf einen Verlust zurückzuführen, finde ich unweigerlich einen solchen inneren Dialog der Selbstabwertung. Ich nehme solche Gefühle – von vielen als depressive Gefühle bezeichnet – als klaren Hinweis, nach einer Selbstabwertung zu fahnden, wenn das nicht gleich offensichtlich ist.
Erst wenn der innere Abwertungsdialog offen gelegt ist, kann ich damit auch umgehen. Ohne Bewusstsein für ihn habe ich keinerlei Handhabe. Aus meiner Sicht helfen hier dann auch keine positiven Affirmationen, die z.B. einfach gegen ein depressives Gefühl gerichtet sind. Für Veränderung braucht es eine Wahrnehmung, ein Bewusstsein und ein Verständnis für den inneren Vorgang.
Im Gespräch mit Patienten erscheint immer ein Lächeln oder Lachen, wenn ich auf den inneren Dialog hinweise. Es ist ein Erkennungslächeln. Mein Gegenüber erkennt dann, wie es mit sich spricht und was das dann für Folgen hat.
Selbstabwertung 2.0
Der Automatismus dieses Dialogs, der gewohnheitsmäßig fortgesetzt wird, führt dann meist zu einer Abwertung 2.0 (ein Abwertung auf der nächsthöheren kognitiven Metaebene): „Wie bin nur so blöd, so blöd zu mir zu sein!“ oder „Du Idiot, jetzt hast Du Dich schon wieder selbst abgewertet, Du Esel!“ Darauf weise ich hin. Diese Selbstabwertung 2.0 ist vorhersehbar. Tatsächlich habe ich noch keinen Fall erlebt, in der sie nicht stattfindet. Das Muster schlägt immer durch. Unbewusste Automatismen, wohin man blickt. So funktioniert Mensch eben.
Lachen
Sobald ich darauf hingewiesen habe, kommt Lachen. Immer. Spontan erkennt man, wie absurd, witzig und automatisch das alles ist. Manchmal entsteht sogar richtig Freude, Entdeckerfreude und die Freude beim Erlernen einer neuen Kompetenz. In der Gruppentherapie freuen sich alle mit. Jeder kennt ja dieses Spiel von sich selbst.
„Das tue ich mir nicht mehr an!“
Das wichtigste Motiv für Veränderung ist wohl die Erkenntnis: „Das tue ich mir ja selbst an!“ Es ist wir zu erkennen, dass man sich selbst mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen hat. „Nein, das tue ich mir nicht mehr an! Diesen Abwertungsschmerz füge ich mir nicht mehr selbst zu.“ Ich schlage ja auch nicht mit dem Hammer mehrfach und bewusst auf meinen Finger.
Wie soll es zu einer Veränderung dieses inneren Musters kommen, wenn ich es nicht wahr nehme? Wenn ich es nicht als schmerzhaft erlebe? Wenn ich nicht entdecke, dass ich selbst bin – und niemand anderes als ich – , der mir diesen Schmerz, gefühlt als Traurigkeit, zufüge.
„Gut, dass Du es fühlst!“
Deswegen lasse ich die Gelegenheit, eine Traurigkeit anzusprechen – oder sie bei mir selbst auszuleuchten – nicht verstreichen. Es ist gut, sie zu fühlen. Es ist nicht gut, sie zu vermeiden oder zu übergehen. Es braucht diese Wahrnehmung, um etwas zu verändern. Schön also, nützlich und hilfreich, dass Du sie wahrnimmst und erkennst. Und sehr nützlich, die sofort folgende Selbstabwertung 2.0 zu sehen – und am besten laut darüber zu lachen. Wie absurd konstant und automatisch diese Muster ablaufen!
Selbstverantwortung
Erst mit diesem Erkennen kann auch das Opferdasein beendet werden. Ich bin dann nicht mehr das Opfer der Gefühle, der inneren Prozesse, der Automatismen, der Muster, der Verursacher der Muster. Auch dann nicht, wenn ich anerkenne, dass mir diese Muster in mühevoller Erziehungsarbeit von meinen Eltern hineingelöffelt wurden. Die Verantwortung liegt jetzt bei mir. Durch Erkennen der Muster kann ich Verantwortung übernehmen.